Der Mensch macht aber auch die Erfahrung, dass sein Leib todesähnlicher Erstarrung verfallen kann, ohne dass Traum- erlebnisse das zweite Selbst beschäftigten. In solcher "Ohn- macht" hat nach griechischer Vorstellung und homerischem Ausdruck "die Psyche den Leib verlassen" 1). Wo war sie? Man weiss es nicht. Aber sie kommt für dieses Mal noch wieder, und mit ihr wird "der Geist in das Zwerchfell wieder versammelt". Wird sie einst, im Tode, sich für immer von dem sichtbaren Leibe trennen, so wird also diesem der "Geist" niemals wiederkehren 2); sie selbst, wie sie damals, zeitweise vom Leibe getrennt, nicht unterging, wird auch dann nicht in Nichts zerfliessen.
3.
Soweit gehen die Erfahrungen, aus denen eine Urweltlogik überall die gleichen Folgerungen gewonnen hat. Nun aber: wohin entfliegt die frei gewordene Psyche? was wird mit ihr? Hier beginnt the undiscovered country, und es kann scheinen, als liefen an ihrem Eingang die Wege völlig auseinander.
Die "Naturvölker" pflegen den vom Leibe getrennten "See- len" eine gewaltige, unsichtbar zwar, aber um so schrecklicher wirkende Macht zuzuschreiben, ja sie leiten zum Theil alle unsichtbare Gewalt von den "Seelen" ab, und sind angstvoll bedacht, durch möglichst reiche Gaben das Wohlwollen dieser mächtigen Geisterwesen sich zu sichern. Homer dagegen kennt
omnino corpore excesserit. Tuscul. I, § 29: visis quibusdam saepe move- bantur eisque maxime nocturnis, ut viderentur ei qui vita excesserant vivere. Hier findet man durch einen antiken Zeugen das subjective und das objective Element des Traumes in seiner Bedeutung für die Ent- stehung des Seelenglaubens treffend bezeichnet.
1) ton d elipe psukhe -- -- authis d ampnunthe Il. 5, 696 f. ten de kat ophthalmon erebenne nux ekalupsen, eripe d exopiso, apo de psukhen ekapussen -- epei oun ampnuto kai es phrena thumos agerthe --. Il. 22, 466 ff. 475. Sehr merkwürdig Il. 5, 696 ff. Od. 24, 348: apopsukhonta.
2) Von dem suspirium (= leipopsukhia) redend, sagt Seneca, epist. 54, 2: medici hanc "meditationem mortis" vocant. faciet enim aliquando spiritus ille, quod saepe conatus est.
Der Mensch macht aber auch die Erfahrung, dass sein Leib todesähnlicher Erstarrung verfallen kann, ohne dass Traum- erlebnisse das zweite Selbst beschäftigten. In solcher „Ohn- macht“ hat nach griechischer Vorstellung und homerischem Ausdruck „die Psyche den Leib verlassen“ 1). Wo war sie? Man weiss es nicht. Aber sie kommt für dieses Mal noch wieder, und mit ihr wird „der Geist in das Zwerchfell wieder versammelt“. Wird sie einst, im Tode, sich für immer von dem sichtbaren Leibe trennen, so wird also diesem der „Geist“ niemals wiederkehren 2); sie selbst, wie sie damals, zeitweise vom Leibe getrennt, nicht unterging, wird auch dann nicht in Nichts zerfliessen.
3.
Soweit gehen die Erfahrungen, aus denen eine Urweltlogik überall die gleichen Folgerungen gewonnen hat. Nun aber: wohin entfliegt die frei gewordene Psyche? was wird mit ihr? Hier beginnt the undiscovered country, und es kann scheinen, als liefen an ihrem Eingang die Wege völlig auseinander.
Die „Naturvölker“ pflegen den vom Leibe getrennten „See- len“ eine gewaltige, unsichtbar zwar, aber um so schrecklicher wirkende Macht zuzuschreiben, ja sie leiten zum Theil alle unsichtbare Gewalt von den „Seelen“ ab, und sind angstvoll bedacht, durch möglichst reiche Gaben das Wohlwollen dieser mächtigen Geisterwesen sich zu sichern. Homer dagegen kennt
omnino corpore excesserit. Tuscul. I, § 29: visis quibusdam saepe move- bantur eisque maxime nocturnis, ut viderentur ei qui vita excesserant vivere. Hier findet man durch einen antiken Zeugen das subjective und das objective Element des Traumes in seiner Bedeutung für die Ent- stehung des Seelenglaubens treffend bezeichnet.
2) Von dem suspirium (= λειποψυχία) redend, sagt Seneca, epist. 54, 2: medici hanc „meditationem mortis“ vocant. faciet enim aliquando spiritus ille, quod saepe conatus est.
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todesähnlicher Erstarrung verfallen kann, ohne dass Traum-
erlebnisse das zweite Selbst beschäftigten. In solcher „Ohn-
macht“ hat nach griechischer Vorstellung und homerischem
Ausdruck „die Psyche den Leib verlassen“ 1). Wo war sie?
Man weiss es nicht. Aber sie kommt für dieses Mal noch
wieder, und mit ihr wird „der Geist in das Zwerchfell wieder
versammelt“. Wird sie einst, im Tode, sich für immer von dem
sichtbaren Leibe trennen, so wird also diesem der „Geist“
niemals wiederkehren 2); sie selbst, wie sie damals, zeitweise
vom Leibe getrennt, nicht unterging, wird auch dann nicht in
Nichts zerfliessen.
3.
Soweit gehen die Erfahrungen, aus denen eine Urweltlogik
überall die gleichen Folgerungen gewonnen hat. Nun aber:
wohin entfliegt die frei gewordene Psyche? was wird mit ihr?
Hier beginnt the undiscovered country, und es kann scheinen,
als liefen an ihrem Eingang die Wege völlig auseinander.
Die „Naturvölker“ pflegen den vom Leibe getrennten „See-
len“ eine gewaltige, unsichtbar zwar, aber um so schrecklicher
wirkende Macht zuzuschreiben, ja sie leiten zum Theil alle
unsichtbare Gewalt von den „Seelen“ ab, und sind angstvoll
bedacht, durch möglichst reiche Gaben das Wohlwollen dieser
mächtigen Geisterwesen sich zu sichern. Homer dagegen kennt
2)
1) τὸν δ̕ ἔλιπε ψυχή — — αὖϑις δ̕ ἀμπνύνϑη Il. 5, 696 f. τήν δὲ κατ̕
ὀφϑαλμῶν ἐρεβεννὴ νὺξ ἐκάλυψεν, ἤριπε δ̕ ἐξοπίσω, ἀπὸ δὲ ψυχὴν ἐκάπυσσεν
— ἐπεὶ οὖν ἄμπνυτο καὶ ἐς φρένα ϑυμὸς ἀγέρϑη —. Il. 22, 466 ff. 475.
Sehr merkwürdig Il. 5, 696 ff. Od. 24, 348: ἀποψύχοντα.
2) Von dem suspirium (= λειποψυχία) redend, sagt Seneca, epist. 54, 2:
medici hanc „meditationem mortis“ vocant. faciet enim aliquando spiritus
ille, quod saepe conatus est.
2) omnino corpore excesserit. Tuscul. I, § 29: visis quibusdam saepe move-
bantur eisque maxime nocturnis, ut viderentur ei qui vita excesserant
vivere. Hier findet man durch einen antiken Zeugen das subjective und
das objective Element des Traumes in seiner Bedeutung für die Ent-
stehung des Seelenglaubens treffend bezeichnet.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/24>, abgerufen am 02.12.2023.
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