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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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richte von der gewaltsam sich verbreitenden Tanzwuth erinnern,
die bald nach den schweren körperlichen und seelischen Er-
schütterungen, mit denen der "schwarze Tod" im 14. Jahr-
hundert Europa heimgesucht hatte, am Rhein ausbrach und
Jahrhunderte lang sich nicht ganz beschwichtigen liess. Ein
unwiderstehliches Verlangen trieb die von der Sucht Ergriffenen
zum Tanzen. Die Umstehenden wurden durch einen krankhaften
Zwang der Mitempfindung und Nachahmung ebenfalls in die
Wirbel des Tanzes gerissen. So breitete sich das Leiden
epidemisch aus; und es zogen grosse Schwärme der Tanzen-
den, Männer, Weiber und Mädchen, durch das Land. Un-
verkennbar lassen auch die erhaltenen dürftigen Berichte noch
den religiösen Charakter dieser Tanzerregung erkennen, welche
auch der Geistlichkeit als "eine Ketzerei" galt. Die Tänzer
riefen den Namen des heiligen Johannes, oder auch die
Namen "gewisser Dämonen" an; Hallucinationen und Visionen
religiöser Art begleiteten ihre Entzückungen 1). War es eine
ähnliche religiöse Volkskrankheit, die in Griechenland, vielleicht
im Gefolge der tiefen Beunruhigung des seelischen Gleich-
gewichts, welche die zerstörende Völkerwanderung, die man die
dorische nennt, mit sich bringen musste, die Gemüther für
die Aufnahme des thrakischen Dionysos und seiner enthusia-
stischen Tanzfeiern empfänglich machte? Auf jeden Fall brach
sich, anders als jene mittelalterliche Bewegung, diese Erregung
nicht an einer schon befestigten und abgeschlossenen, anders
gearteten Religion und Kirche. Das Eindringen und Vor-
schreiten der Dionysosreligion in Griechenland wird uns in dem
täuschenden Helldunkel des Mythus nur halb erkennbar. Das
aber liegt ja klar vor Augen, dass der bakchische Cult, wenn

1) S. die bei Hecker, Die gr. Volkskrankh. des Mittelalters2 p. 150 f.,
186 ff. mitgetheilten Berichte, besonders den des Petrus de Herentals (bei
Steph. Baluzius Vitae Pap. Avinionens. 1, 483). "quaedam nomina daemonio-
rum appellabant.
" Der Tanzende cernit Mariae filium et coelum apertum.
-- Die meister von der heiligen schrift di besworen der denzer endeiles, di
meinten, daz si besessen weren von dem bosen vigende.
(Limburger Chronik
p. 64, 26 ed. Wyss [Mon. Germ.]).

richte von der gewaltsam sich verbreitenden Tanzwuth erinnern,
die bald nach den schweren körperlichen und seelischen Er-
schütterungen, mit denen der „schwarze Tod“ im 14. Jahr-
hundert Europa heimgesucht hatte, am Rhein ausbrach und
Jahrhunderte lang sich nicht ganz beschwichtigen liess. Ein
unwiderstehliches Verlangen trieb die von der Sucht Ergriffenen
zum Tanzen. Die Umstehenden wurden durch einen krankhaften
Zwang der Mitempfindung und Nachahmung ebenfalls in die
Wirbel des Tanzes gerissen. So breitete sich das Leiden
epidemisch aus; und es zogen grosse Schwärme der Tanzen-
den, Männer, Weiber und Mädchen, durch das Land. Un-
verkennbar lassen auch die erhaltenen dürftigen Berichte noch
den religiösen Charakter dieser Tanzerregung erkennen, welche
auch der Geistlichkeit als „eine Ketzerei“ galt. Die Tänzer
riefen den Namen des heiligen Johannes, oder auch die
Namen „gewisser Dämonen“ an; Hallucinationen und Visionen
religiöser Art begleiteten ihre Entzückungen 1). War es eine
ähnliche religiöse Volkskrankheit, die in Griechenland, vielleicht
im Gefolge der tiefen Beunruhigung des seelischen Gleich-
gewichts, welche die zerstörende Völkerwanderung, die man die
dorische nennt, mit sich bringen musste, die Gemüther für
die Aufnahme des thrakischen Dionysos und seiner enthusia-
stischen Tanzfeiern empfänglich machte? Auf jeden Fall brach
sich, anders als jene mittelalterliche Bewegung, diese Erregung
nicht an einer schon befestigten und abgeschlossenen, anders
gearteten Religion und Kirche. Das Eindringen und Vor-
schreiten der Dionysosreligion in Griechenland wird uns in dem
täuschenden Helldunkel des Mythus nur halb erkennbar. Das
aber liegt ja klar vor Augen, dass der bakchische Cult, wenn

1) S. die bei Hecker, Die gr. Volkskrankh. des Mittelalters2 p. 150 f.,
186 ff. mitgetheilten Berichte, besonders den des Petrus de Herentals (bei
Steph. Baluzius Vitae Pap. Avinionens. 1, 483). „quaedam nomina daemonio-
rum appellabant.
“ Der Tanzende cernit Mariae filium et coelum apertum.
— Die meister von der heiligen schrift di besworen der denzer endeiles, di
meinten, daz si besessen weren von dem bosen vigende.
(Limburger Chronik
p. 64, 26 ed. Wyss [Mon. Germ.]).
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[331/0347] richte von der gewaltsam sich verbreitenden Tanzwuth erinnern, die bald nach den schweren körperlichen und seelischen Er- schütterungen, mit denen der „schwarze Tod“ im 14. Jahr- hundert Europa heimgesucht hatte, am Rhein ausbrach und Jahrhunderte lang sich nicht ganz beschwichtigen liess. Ein unwiderstehliches Verlangen trieb die von der Sucht Ergriffenen zum Tanzen. Die Umstehenden wurden durch einen krankhaften Zwang der Mitempfindung und Nachahmung ebenfalls in die Wirbel des Tanzes gerissen. So breitete sich das Leiden epidemisch aus; und es zogen grosse Schwärme der Tanzen- den, Männer, Weiber und Mädchen, durch das Land. Un- verkennbar lassen auch die erhaltenen dürftigen Berichte noch den religiösen Charakter dieser Tanzerregung erkennen, welche auch der Geistlichkeit als „eine Ketzerei“ galt. Die Tänzer riefen den Namen des heiligen Johannes, oder auch die Namen „gewisser Dämonen“ an; Hallucinationen und Visionen religiöser Art begleiteten ihre Entzückungen 1). War es eine ähnliche religiöse Volkskrankheit, die in Griechenland, vielleicht im Gefolge der tiefen Beunruhigung des seelischen Gleich- gewichts, welche die zerstörende Völkerwanderung, die man die dorische nennt, mit sich bringen musste, die Gemüther für die Aufnahme des thrakischen Dionysos und seiner enthusia- stischen Tanzfeiern empfänglich machte? Auf jeden Fall brach sich, anders als jene mittelalterliche Bewegung, diese Erregung nicht an einer schon befestigten und abgeschlossenen, anders gearteten Religion und Kirche. Das Eindringen und Vor- schreiten der Dionysosreligion in Griechenland wird uns in dem täuschenden Helldunkel des Mythus nur halb erkennbar. Das aber liegt ja klar vor Augen, dass der bakchische Cult, wenn 1) S. die bei Hecker, Die gr. Volkskrankh. des Mittelalters2 p. 150 f., 186 ff. mitgetheilten Berichte, besonders den des Petrus de Herentals (bei Steph. Baluzius Vitae Pap. Avinionens. 1, 483). „quaedam nomina daemonio- rum appellabant.“ Der Tanzende cernit Mariae filium et coelum apertum. — Die meister von der heiligen schrift di besworen der denzer endeiles, di meinten, daz si besessen weren von dem bosen vigende. (Limburger Chronik p. 64, 26 ed. Wyss [Mon. Germ.]).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/347>, abgerufen am 30.04.2024.