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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,
nichts spüren liessen.

Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).

von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem "Koskohügel", Baubo
en Tabarnei, Thettale pros to theatro). arkhaios khresmos, mit prosaischer
Erläuterung, erneuert von Apolloneios Mokolles, arkhaios mustes (des
Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen
sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten-
den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende
und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische
Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf
eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ekstasis ver-
fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in
später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen
Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-

Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen
mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere
beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver-
breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen
zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von
dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen,
nichts spüren liessen.

Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber-
schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten
Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle
ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des
Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst
ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult
zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten
Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im
Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos-
cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht-
feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi-
schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen
Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch-
delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her-
kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals
aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme-
rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1).

von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo
ἐν Ταβάρνει, Thettale πρὸς τῷ ϑεάτρῳ). ἀρχαῖος χρησμός, mit prosaischer
Erläuterung, erneuert von Ἀπολλώνειος Μοκόλλης, ἀρχαῖος μύστης (des
Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.
1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen
sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten-
den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende
und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische
Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf
eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver-
fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in
später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen
Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er-
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[343/0359] Religionsweise durch die in religiösen Dingen unter Griechen mächtigste Körperschaft hat jedenfalls mehr als alles andere beigetragen, dem Gotte und seiner Verehrung jene weite Ver- breitung und tiefe Einwurzelung in griechischem Religionswesen zu geben, von der die homerischen Gedichte, die ja auch von dem Einfluss des delphischen Orakels noch sehr wenig wissen, nichts spüren liessen. Aber es war ein gemilderter, gesittigter, aus der Ueber- schwänglichkeit ekstatischer Entzückung zu der gemässigten Empfindung bürgerlichen Tageslebens und der heiteren Helle ländlicher und städtischer Festfeier hinübergeleiteter Cult des Dionysos, den das delphische Orakel verbreiten und wohl selbst ausgestalten half. Von dem altthrakischen Aufregungscult zeigt das dionysische Festleben Athens kaum einen letzten Schimmer. An anderen Orten, und nicht am wenigsten im Bereich des delphischen Apollo selbst, hielt sich der Dionysos- cult in der ursprünglichen Gestalt der enthusiastischen Nacht- feier. Athen beschickte, auf Geheiss des Orakels, die delphi- schen Trieterien mit einer Festgesandtschaft von erlesenen Frauen. Aber Alles lässt uns merken, dass in diesen athenisch- delphischen Festgebräuchen nur das, zu einer ritualen Her- kömmlichkeit abgedämpfte, andeutende Nachbild der ehemals aus tiefster Seelenbewegung geborenen Vorgänge der schwärme- rischen Bergfeste des Dionysos erhalten blieb 1). 2) 1) S. Rapp, Rhein. Mus. 27, der indessen, bei der im Allgemeinen sehr zutreffenden Hervorhebung des wesentlich nur ritualen und andeuten- den Charakters jener Festzüge und Tanzfeste, das in alter Zeit vorwiegende und auch später gelegentlich immer wieder hervorbrechende ekstatische Wesen der Dionysosfeiern (ohne dessen reales Dasein man niemals auf eine ritualistisch symbolisirende Nachahmung eben dieser ἔκστασις ver- fallen wäre) allzu stark in den Hintergrund schiebt. Wie selbst noch in später Zeit wirkliche Ekstase und Selbstvergessenheit bei ihren heiligen Nachtfeiern und deren vielfachen Erregungsmitteln die Thyiaden er- 2) von der Stadt feierlich begraben (Kosko auf dem „Koskohügel“, Baubo ἐν Ταβάρνει, Thettale πρὸς τῷ ϑεάτρῳ). ἀρχαῖος χρησμός, mit prosaischer Erläuterung, erneuert von Ἀπολλώνειος Μοκόλλης, ἀρχαῖος μύστης (des Dionysos): Mitth. d. arch. Inst. zu Athen 15 (1890) p. 331 f.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/359>, abgerufen am 07.05.2024.