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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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dass in Unteritalien schon damals orphische Gemeinden bestan-
den: für wen anders könnten jene Männer ihre "orphischen"
Gedichte bestimmt haben? Man muss jedenfalls festhalten, dass
das Zusammentreffen orphischer und pythagoreischer Lehren auf
dem Gebiete der Seelenkunde nicht ein zufälliges sein kann. Fand
etwa Pythagoras, als er (um 532) nach Italien kam, orphische
Gemeinden in Kroton und Metapont bereits vor und trat in
deren Gedankenkreise ein? Oder verdanken (wie Herodot es
sich vorstellte 1)) die nach Orpheus benannten Sectirer ihre
Gedanken erst dem Pythagoras und dessen Schülern? 2) Wir
können nicht mehr mit voller Deutlichkeit unterscheiden, wie
hier die Fäden hin und wieder liefen. Wenn aber wirklich die
Pythagoreer allein die Gebenden gewesen wären, so würde
ohne Zweifel die gesammte orphische Lehre mit solchen Vor-
stellungen durchsetzt sein, die zu dem eigenthümlichen Besitz
der pythagoreischen Schule gehören. Jetzt finden wir in den
Trümmern orphischer Gedichte ausser geringfügigen Spuren
pythagoreischer Zahlenmystik 3) nichts, was nothwendiger Weise

1) omologeousi de (scil. Aiguptioi) tauta (Verbot der Beerdigung in Woll-
kleidern) toisi Orphikoisi kaleomenoisi kai Bakkhikoisi, eousi de Aiguptioisi
kai Puthagoreioisi. Her. 2, 81. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Herodot mit
diesen Worten die Orphika kai Bakkhika (die vier Dative sind sämmtlich
neutrius gen., nicht masculini) herleiten will von den Aiguptia kai Putha-
goreia, d. h. den selbst aus Aegypten entlehnten Pythagoreischen Satz-
ungen (vgl. Gomperz, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 1886 p. 1032). Hätte
er (wie Zeller annimmt, Ber. d. Berliner Ak. 1889 p. 994, der vor kai
Puth. ein Komma einsetzt) die Puthagoreia als von den Aiguptia (und
die Orphika von ihnen) ganz unabhängig sich gedacht, so hätte er sie hier
gar nicht erwähnen dürfen.
2) Herodots Meinung verpflichtet uns durchaus nicht zum Glauben.
Ihm muss Pythagoras als Urheber orphischer Doctrinen gelten, weil
dessen Zusammenhang mit Aegypten (vgl. Herod. 2, 123) gewiss schien
(was für die eigentlichen Orphikoi nicht galt), und auf diese Weise der
ägyptische Ursprung jener Lehre, auf den es dem Her. allein ankam,
für nachgewiesen gelten konnte. -- Das für die Priorität der Orphiker
oft angerufene Zeugniss des Philolaos (bei Clem. Strom. 3, 433 B. C.; vgl.
Cicero Hortens. fr. 85 Orell.) beweist freilich auch nicht recht was es
beweisen soll.
3) fr. 143--151. (Vgl. Lobeck, Agl. 715 ff.). Hier geht indess orphi-

dass in Unteritalien schon damals orphische Gemeinden bestan-
den: für wen anders könnten jene Männer ihre „orphischen“
Gedichte bestimmt haben? Man muss jedenfalls festhalten, dass
das Zusammentreffen orphischer und pythagoreischer Lehren auf
dem Gebiete der Seelenkunde nicht ein zufälliges sein kann. Fand
etwa Pythagoras, als er (um 532) nach Italien kam, orphische
Gemeinden in Kroton und Metapont bereits vor und trat in
deren Gedankenkreise ein? Oder verdanken (wie Herodot es
sich vorstellte 1)) die nach Orpheus benannten Sectirer ihre
Gedanken erst dem Pythagoras und dessen Schülern? 2) Wir
können nicht mehr mit voller Deutlichkeit unterscheiden, wie
hier die Fäden hin und wieder liefen. Wenn aber wirklich die
Pythagoreer allein die Gebenden gewesen wären, so würde
ohne Zweifel die gesammte orphische Lehre mit solchen Vor-
stellungen durchsetzt sein, die zu dem eigenthümlichen Besitz
der pythagoreischen Schule gehören. Jetzt finden wir in den
Trümmern orphischer Gedichte ausser geringfügigen Spuren
pythagoreischer Zahlenmystik 3) nichts, was nothwendiger Weise

1) ὁμολογέουσι δὲ (scil. Αἰγύπτιοι) ταῦτα (Verbot der Beerdigung in Woll-
kleidern) τοῖσι Ὀρφικοῖσι καλεομένοισι καὶ Βακχικοῖσι, ἐοῦσι δὲ Αἰγυπτίοισι
καὶ Πυϑαγορείοισι. Her. 2, 81. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Herodot mit
diesen Worten die Ὀρφικά καὶ Βακχικά (die vier Dative sind sämmtlich
neutrius gen., nicht masculini) herleiten will von den Αἰγύπτια καὶ Πυϑα-
γόρεια, d. h. den selbst aus Aegypten entlehnten Pythagoreischen Satz-
ungen (vgl. Gomperz, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 1886 p. 1032). Hätte
er (wie Zeller annimmt, Ber. d. Berliner Ak. 1889 p. 994, der vor καὶ
Πυϑ. ein Komma einsetzt) die Πυϑαγόρεια als von den Αἰγύπτια (und
die Ὀρφικά von ihnen) ganz unabhängig sich gedacht, so hätte er sie hier
gar nicht erwähnen dürfen.
2) Herodots Meinung verpflichtet uns durchaus nicht zum Glauben.
Ihm muss Pythagoras als Urheber orphischer Doctrinen gelten, weil
dessen Zusammenhang mit Aegypten (vgl. Herod. 2, 123) gewiss schien
(was für die eigentlichen Ὀρφικοί nicht galt), und auf diese Weise der
ägyptische Ursprung jener Lehre, auf den es dem Her. allein ankam,
für nachgewiesen gelten konnte. — Das für die Priorität der Orphiker
oft angerufene Zeugniss des Philolaos (bei Clem. Strom. 3, 433 B. C.; vgl.
Cicero Hortens. fr. 85 Orell.) beweist freilich auch nicht recht was es
beweisen soll.
3) fr. 143—151. (Vgl. Lobeck, Agl. 715 ff.). Hier geht indess orphi-
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[399/0415] dass in Unteritalien schon damals orphische Gemeinden bestan- den: für wen anders könnten jene Männer ihre „orphischen“ Gedichte bestimmt haben? Man muss jedenfalls festhalten, dass das Zusammentreffen orphischer und pythagoreischer Lehren auf dem Gebiete der Seelenkunde nicht ein zufälliges sein kann. Fand etwa Pythagoras, als er (um 532) nach Italien kam, orphische Gemeinden in Kroton und Metapont bereits vor und trat in deren Gedankenkreise ein? Oder verdanken (wie Herodot es sich vorstellte 1)) die nach Orpheus benannten Sectirer ihre Gedanken erst dem Pythagoras und dessen Schülern? 2) Wir können nicht mehr mit voller Deutlichkeit unterscheiden, wie hier die Fäden hin und wieder liefen. Wenn aber wirklich die Pythagoreer allein die Gebenden gewesen wären, so würde ohne Zweifel die gesammte orphische Lehre mit solchen Vor- stellungen durchsetzt sein, die zu dem eigenthümlichen Besitz der pythagoreischen Schule gehören. Jetzt finden wir in den Trümmern orphischer Gedichte ausser geringfügigen Spuren pythagoreischer Zahlenmystik 3) nichts, was nothwendiger Weise 1) ὁμολογέουσι δὲ (scil. Αἰγύπτιοι) ταῦτα (Verbot der Beerdigung in Woll- kleidern) τοῖσι Ὀρφικοῖσι καλεομένοισι καὶ Βακχικοῖσι, ἐοῦσι δὲ Αἰγυπτίοισι καὶ Πυϑαγορείοισι. Her. 2, 81. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Herodot mit diesen Worten die Ὀρφικά καὶ Βακχικά (die vier Dative sind sämmtlich neutrius gen., nicht masculini) herleiten will von den Αἰγύπτια καὶ Πυϑα- γόρεια, d. h. den selbst aus Aegypten entlehnten Pythagoreischen Satz- ungen (vgl. Gomperz, Sitzungsber. d. Wiener Akad. 1886 p. 1032). Hätte er (wie Zeller annimmt, Ber. d. Berliner Ak. 1889 p. 994, der vor καὶ Πυϑ. ein Komma einsetzt) die Πυϑαγόρεια als von den Αἰγύπτια (und die Ὀρφικά von ihnen) ganz unabhängig sich gedacht, so hätte er sie hier gar nicht erwähnen dürfen. 2) Herodots Meinung verpflichtet uns durchaus nicht zum Glauben. Ihm muss Pythagoras als Urheber orphischer Doctrinen gelten, weil dessen Zusammenhang mit Aegypten (vgl. Herod. 2, 123) gewiss schien (was für die eigentlichen Ὀρφικοί nicht galt), und auf diese Weise der ägyptische Ursprung jener Lehre, auf den es dem Her. allein ankam, für nachgewiesen gelten konnte. — Das für die Priorität der Orphiker oft angerufene Zeugniss des Philolaos (bei Clem. Strom. 3, 433 B. C.; vgl. Cicero Hortens. fr. 85 Orell.) beweist freilich auch nicht recht was es beweisen soll. 3) fr. 143—151. (Vgl. Lobeck, Agl. 715 ff.). Hier geht indess orphi-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/415>, abgerufen am 15.05.2024.