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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Der Begriff erweitert hier die Person so sehr, dass er sie zu zer-
sprengen droht; er löst die Umrisse der einzelnen Gestalten auf
und lässt sie in bewusster "Göttermischung" zusammenfliessen 1).

Dennoch ist die mythische Schaale nicht abgeworfen.
Diese Dichter konnten sie nicht völlig abwerfen; ihre Götter
sehnen sich wohl zu reinen Begriffen zu werden, aber es ge-
lingt ihnen nicht ganz, alle Reste der Individualität und sinn-
lich begrenzten Gestaltung abzustreifen, es gelingt dem Begriff
noch nicht ganz unter den Schleiern des Mythus hervorzu-
brechen. Das halb Geschaute, halb Gedachte zugleich der
Phantasie und dem begrifflichen Denken gegenständlich zu
machen, mühten sich, einer den anderen in wechselnder Ein-
kleidung der gleichen Grundvorstellungen ablösend und über-
bietend, die Dichter der verschiedenen orphischen Theogonien
ab, bis als letztes, wie es scheint, das uns aus den Anführungen
der Neoplatoniker allein seinem Gehalte nach genauer bekannte
theogonische Gedicht der vierundzwanzig Rhapsodien einen
Abschluss brachte, in welchem die aufgespeicherten Motive
mythisch symbolischer Lehre bis zur Ueberladung vollständig
aufgenommen und endgiltig zusammengeordnet wurden 2).

Gruppe richtig bemerkt, die älteste Fassung. kephale = teleute. Vgl. Plat.
Tim. 69 B) vorkam, den dann die rhapsod. Theogonie, gleich vielem alten
Gut, nur aufnahm. Schon der orpheusgläubige Verf. der Rede gegen
Aristogeiton scheint, wie Lobeck bemerkt, auf die Worte anzuspie-
len, § 8.
1) Die Theokrasie wird von Anfang an zur orphischen Theologie
gehört haben (vgl. Lobeck, Agl. 614), wiewohl die stärksten Aussprüche
dieser Art (fr. 167. 169 [Macrob.], 168 [Diodor.], 201 [Rhaps.] etc.) jüngeren
Gedichten angehört haben mögen: dem "kleinen Mischkrug" (fr. 160), in
dem bereits Chrysipp nachgeahmt scheint (fr. 164, 1. Lobeck, Agl. 735),
den Diathekai (fr. 7 [Iustin. mart.]), einer Fälschung im jüdisch-christ-
lichen Interesse, in der indess alte Stücke der orphischen Litteratur be-
nutzt waren (der ieros logos: Lob. 450 ff.; 454). -- Theokrasie begegnet
selbst bei altgläubigen Dichtern schon des 5. Jahrhunderts; aber von
ihnen geht sie nicht aus; wie den Orphikern, war sie, im sechsten Jahr-
hundert, den "Theologen" Epimenides, Pherekydes geläufig (vgl. Kern
de theogon. 92).
2) Die uns durch Berichte neoplatonischer Philosophen und einiger

Der Begriff erweitert hier die Person so sehr, dass er sie zu zer-
sprengen droht; er löst die Umrisse der einzelnen Gestalten auf
und lässt sie in bewusster „Göttermischung“ zusammenfliessen 1).

Dennoch ist die mythische Schaale nicht abgeworfen.
Diese Dichter konnten sie nicht völlig abwerfen; ihre Götter
sehnen sich wohl zu reinen Begriffen zu werden, aber es ge-
lingt ihnen nicht ganz, alle Reste der Individualität und sinn-
lich begrenzten Gestaltung abzustreifen, es gelingt dem Begriff
noch nicht ganz unter den Schleiern des Mythus hervorzu-
brechen. Das halb Geschaute, halb Gedachte zugleich der
Phantasie und dem begrifflichen Denken gegenständlich zu
machen, mühten sich, einer den anderen in wechselnder Ein-
kleidung der gleichen Grundvorstellungen ablösend und über-
bietend, die Dichter der verschiedenen orphischen Theogonien
ab, bis als letztes, wie es scheint, das uns aus den Anführungen
der Neoplatoniker allein seinem Gehalte nach genauer bekannte
theogonische Gedicht der vierundzwanzig Rhapsodien einen
Abschluss brachte, in welchem die aufgespeicherten Motive
mythisch symbolischer Lehre bis zur Ueberladung vollständig
aufgenommen und endgiltig zusammengeordnet wurden 2).

Gruppe richtig bemerkt, die älteste Fassung. κεφαλή = τελευτή. Vgl. Plat.
Tim. 69 B) vorkam, den dann die rhapsod. Theogonie, gleich vielem alten
Gut, nur aufnahm. Schon der orpheusgläubige Verf. der Rede gegen
Aristogeiton scheint, wie Lobeck bemerkt, auf die Worte anzuspie-
len, § 8.
1) Die Theokrasie wird von Anfang an zur orphischen Theologie
gehört haben (vgl. Lobeck, Agl. 614), wiewohl die stärksten Aussprüche
dieser Art (fr. 167. 169 [Macrob.], 168 [Diodor.], 201 [Rhaps.] etc.) jüngeren
Gedichten angehört haben mögen: dem „kleinen Mischkrug“ (fr. 160), in
dem bereits Chrysipp nachgeahmt scheint (fr. 164, 1. Lobeck, Agl. 735),
den Διαϑῆκαι (fr. 7 [Iustin. mart.]), einer Fälschung im jüdisch-christ-
lichen Interesse, in der indess alte Stücke der orphischen Litteratur be-
nutzt waren (der ἱερὸς λόγος: Lob. 450 ff.; 454). — Theokrasie begegnet
selbst bei altgläubigen Dichtern schon des 5. Jahrhunderts; aber von
ihnen geht sie nicht aus; wie den Orphikern, war sie, im sechsten Jahr-
hundert, den „Theologen“ Epimenides, Pherekydes geläufig (vgl. Kern
de theogon. 92).
2) Die uns durch Berichte neoplatonischer Philosophen und einiger
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[406/0422] Der Begriff erweitert hier die Person so sehr, dass er sie zu zer- sprengen droht; er löst die Umrisse der einzelnen Gestalten auf und lässt sie in bewusster „Göttermischung“ zusammenfliessen 1). Dennoch ist die mythische Schaale nicht abgeworfen. Diese Dichter konnten sie nicht völlig abwerfen; ihre Götter sehnen sich wohl zu reinen Begriffen zu werden, aber es ge- lingt ihnen nicht ganz, alle Reste der Individualität und sinn- lich begrenzten Gestaltung abzustreifen, es gelingt dem Begriff noch nicht ganz unter den Schleiern des Mythus hervorzu- brechen. Das halb Geschaute, halb Gedachte zugleich der Phantasie und dem begrifflichen Denken gegenständlich zu machen, mühten sich, einer den anderen in wechselnder Ein- kleidung der gleichen Grundvorstellungen ablösend und über- bietend, die Dichter der verschiedenen orphischen Theogonien ab, bis als letztes, wie es scheint, das uns aus den Anführungen der Neoplatoniker allein seinem Gehalte nach genauer bekannte theogonische Gedicht der vierundzwanzig Rhapsodien einen Abschluss brachte, in welchem die aufgespeicherten Motive mythisch symbolischer Lehre bis zur Ueberladung vollständig aufgenommen und endgiltig zusammengeordnet wurden 2). 2) 1) Die Theokrasie wird von Anfang an zur orphischen Theologie gehört haben (vgl. Lobeck, Agl. 614), wiewohl die stärksten Aussprüche dieser Art (fr. 167. 169 [Macrob.], 168 [Diodor.], 201 [Rhaps.] etc.) jüngeren Gedichten angehört haben mögen: dem „kleinen Mischkrug“ (fr. 160), in dem bereits Chrysipp nachgeahmt scheint (fr. 164, 1. Lobeck, Agl. 735), den Διαϑῆκαι (fr. 7 [Iustin. mart.]), einer Fälschung im jüdisch-christ- lichen Interesse, in der indess alte Stücke der orphischen Litteratur be- nutzt waren (der ἱερὸς λόγος: Lob. 450 ff.; 454). — Theokrasie begegnet selbst bei altgläubigen Dichtern schon des 5. Jahrhunderts; aber von ihnen geht sie nicht aus; wie den Orphikern, war sie, im sechsten Jahr- hundert, den „Theologen“ Epimenides, Pherekydes geläufig (vgl. Kern de theogon. 92). 2) Die uns durch Berichte neoplatonischer Philosophen und einiger 2) Gruppe richtig bemerkt, die älteste Fassung. κεφαλή = τελευτή. Vgl. Plat. Tim. 69 B) vorkam, den dann die rhapsod. Theogonie, gleich vielem alten Gut, nur aufnahm. Schon der orpheusgläubige Verf. der Rede gegen Aristogeiton scheint, wie Lobeck bemerkt, auf die Worte anzuspie- len, § 8.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/422>, abgerufen am 29.04.2024.