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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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geheiligten Seele kann nicht Hades, nicht Erdenleben den höch-
sten Kranz bieten. Ist sie in orphischen Weihen und orphi-
schem Leben aller Flecken ledig geworden, so wird sie, von
Wiedergeburt befreit, aus dem Kreise des Werdens und Ver-
gehens ausscheiden. Nicht um ins Nichts zu vergehen in end-
gültigem Tode, denn nun erst lebt sie wahrhaft, im Leibe war
sie eingesenkt wie der Leichnam im Grabe 1). Das war ihr
Tod, wenn sie in den irdischen Leib eintrat. Nun ist sie frei
und wird nie mehr den Tod erleiden, sie lebt ewig wie Gott,
die sie selbst vom Gotte stammt. Ob die Phantasie dieser
Theosophen es wagte, sich in bestimmter Vergegenwärtigung
bis in die Höhen seligen Gottlebens zu verlieren, wissen wir
nicht 2). Wir hören in den Resten ihrer Erdichtungen von
Sternen und Mond als anderen Welten 3), vielleicht als Wohn-
plätzen der verklärten Geister 4). Vielleicht auch entliess der
Dichter die aus ihrer letzten Lebenshaft entfliehende Seele ohne
ihr nachblicken zu wollen in den ungebrochenen Glanz, den
kein irdisches Auge verträgt.

1) soma-sema orphisch: Plat. Cratyl. 400 C.
2) Gänzliches Ausscheiden aus der Welt der Geburten und des
Todes stellt ja das kuklou te lexai -- (fr. 226) den orphisch Frommen
bestimmt in Aussicht. Die positive Ergänzung zu dieser negativen Ver-
heissung bietet uns kein Bruchstück deutlich dar (auch Rückkehr der
Einzelseelen zu der Einen Seele des Alls wird nirgends angedeutet: wie-
wohl orphische Mythen -- wohl späterer Entstehung -- auf solche
Emanationslehre und endliche Remanation hinzuführen scheinen).
3) fr. 1. 81. Den Mond hielten ja auch Pythagoreer (besonders
Philolaos) und Anaxagoras für bewohnt, gleich der Erde.
4) So wenigstens Pythagoreer, auch spätere Platoniker (S. Griech.
Roman.
269. Wyttenb. zu Eunap. Vit. Soph. p. 117.). Aber schon Plato
setzt im Timaeus, besonders 42 B, eine solche Vorstellung voraus. Sie
konnte längst dem Volksglauben der Griechen (wie andrer Völker: vgl.
Tylor Prim. Cult. 2, 64) vertraut sein und von daher den Orphikern zu-
gekommen sein (ähnlich, wiewohl nicht gleich, ist der Volksglaube os
asteres gignometh otan tis apothane: Arist. Pac. 831 f., den die Griechen
mit Völkern aller Erdtheile gemein hatten. Angeblich so auch "Pytha-
goras": Comm. Bern. Lucan. 9, 9). -- Auf die Aussage des Ficinus (fr. 321)
ist nicht zu bauen.

geheiligten Seele kann nicht Hades, nicht Erdenleben den höch-
sten Kranz bieten. Ist sie in orphischen Weihen und orphi-
schem Leben aller Flecken ledig geworden, so wird sie, von
Wiedergeburt befreit, aus dem Kreise des Werdens und Ver-
gehens ausscheiden. Nicht um ins Nichts zu vergehen in end-
gültigem Tode, denn nun erst lebt sie wahrhaft, im Leibe war
sie eingesenkt wie der Leichnam im Grabe 1). Das war ihr
Tod, wenn sie in den irdischen Leib eintrat. Nun ist sie frei
und wird nie mehr den Tod erleiden, sie lebt ewig wie Gott,
die sie selbst vom Gotte stammt. Ob die Phantasie dieser
Theosophen es wagte, sich in bestimmter Vergegenwärtigung
bis in die Höhen seligen Gottlebens zu verlieren, wissen wir
nicht 2). Wir hören in den Resten ihrer Erdichtungen von
Sternen und Mond als anderen Welten 3), vielleicht als Wohn-
plätzen der verklärten Geister 4). Vielleicht auch entliess der
Dichter die aus ihrer letzten Lebenshaft entfliehende Seele ohne
ihr nachblicken zu wollen in den ungebrochenen Glanz, den
kein irdisches Auge verträgt.

1) σῶμα-σῆμα orphisch: Plat. Cratyl. 400 C.
2) Gänzliches Ausscheiden aus der Welt der Geburten und des
Todes stellt ja das κύκλου τε λῆξαι — (fr. 226) den orphisch Frommen
bestimmt in Aussicht. Die positive Ergänzung zu dieser negativen Ver-
heissung bietet uns kein Bruchstück deutlich dar (auch Rückkehr der
Einzelseelen zu der Einen Seele des Alls wird nirgends angedeutet: wie-
wohl orphische Mythen — wohl späterer Entstehung — auf solche
Emanationslehre und endliche Remanation hinzuführen scheinen).
3) fr. 1. 81. Den Mond hielten ja auch Pythagoreer (besonders
Philolaos) und Anaxagoras für bewohnt, gleich der Erde.
4) So wenigstens Pythagoreer, auch spätere Platoniker (S. Griech.
Roman.
269. Wyttenb. zu Eunap. Vit. Soph. p. 117.). Aber schon Plato
setzt im Timaeus, besonders 42 B, eine solche Vorstellung voraus. Sie
konnte längst dem Volksglauben der Griechen (wie andrer Völker: vgl.
Tylor Prim. Cult. 2, 64) vertraut sein und von daher den Orphikern zu-
gekommen sein (ähnlich, wiewohl nicht gleich, ist der Volksglaube ὡς
ἀστέρες γιγνόμεϑ̕ ὅταν τις ἀποϑάνῆ: Arist. Pac. 831 f., den die Griechen
mit Völkern aller Erdtheile gemein hatten. Angeblich so auch „Pytha-
goras“: Comm. Bern. Lucan. 9, 9). — Auf die Aussage des Ficinus (fr. 321)
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[423/0439] geheiligten Seele kann nicht Hades, nicht Erdenleben den höch- sten Kranz bieten. Ist sie in orphischen Weihen und orphi- schem Leben aller Flecken ledig geworden, so wird sie, von Wiedergeburt befreit, aus dem Kreise des Werdens und Ver- gehens ausscheiden. Nicht um ins Nichts zu vergehen in end- gültigem Tode, denn nun erst lebt sie wahrhaft, im Leibe war sie eingesenkt wie der Leichnam im Grabe 1). Das war ihr Tod, wenn sie in den irdischen Leib eintrat. Nun ist sie frei und wird nie mehr den Tod erleiden, sie lebt ewig wie Gott, die sie selbst vom Gotte stammt. Ob die Phantasie dieser Theosophen es wagte, sich in bestimmter Vergegenwärtigung bis in die Höhen seligen Gottlebens zu verlieren, wissen wir nicht 2). Wir hören in den Resten ihrer Erdichtungen von Sternen und Mond als anderen Welten 3), vielleicht als Wohn- plätzen der verklärten Geister 4). Vielleicht auch entliess der Dichter die aus ihrer letzten Lebenshaft entfliehende Seele ohne ihr nachblicken zu wollen in den ungebrochenen Glanz, den kein irdisches Auge verträgt. 1) σῶμα-σῆμα orphisch: Plat. Cratyl. 400 C. 2) Gänzliches Ausscheiden aus der Welt der Geburten und des Todes stellt ja das κύκλου τε λῆξαι — (fr. 226) den orphisch Frommen bestimmt in Aussicht. Die positive Ergänzung zu dieser negativen Ver- heissung bietet uns kein Bruchstück deutlich dar (auch Rückkehr der Einzelseelen zu der Einen Seele des Alls wird nirgends angedeutet: wie- wohl orphische Mythen — wohl späterer Entstehung — auf solche Emanationslehre und endliche Remanation hinzuführen scheinen). 3) fr. 1. 81. Den Mond hielten ja auch Pythagoreer (besonders Philolaos) und Anaxagoras für bewohnt, gleich der Erde. 4) So wenigstens Pythagoreer, auch spätere Platoniker (S. Griech. Roman. 269. Wyttenb. zu Eunap. Vit. Soph. p. 117.). Aber schon Plato setzt im Timaeus, besonders 42 B, eine solche Vorstellung voraus. Sie konnte längst dem Volksglauben der Griechen (wie andrer Völker: vgl. Tylor Prim. Cult. 2, 64) vertraut sein und von daher den Orphikern zu- gekommen sein (ähnlich, wiewohl nicht gleich, ist der Volksglaube ὡς ἀστέρες γιγνόμεϑ̕ ὅταν τις ἀποϑάνῆ: Arist. Pac. 831 f., den die Griechen mit Völkern aller Erdtheile gemein hatten. Angeblich so auch „Pytha- goras“: Comm. Bern. Lucan. 9, 9). — Auf die Aussage des Ficinus (fr. 321) ist nicht zu bauen.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/439>, abgerufen am 29.04.2024.