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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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geschlossener Selbstgleichheit in dem Ab- und Zuströmen des
Feuergeistes schon im Leibesleben nicht geredet werden konnte.
Die Frage nach einer individuellen Unsterblichkeit oder auch
nur Fortdauer der Einzelseele hat für Heraklit kaum einen
Sinn. Auch unter der Form der "Seelenwanderung" kann er
sie nicht bejaht haben 1). Dass Heraklit ein unverändertes
Bestehen der Seele des einzelnen Menschen, mitten in dem
nie gehemmten Strome des Werdens, in dem jedes Beharren
nur ein Sinnentrug ist, nicht ausdrücklich behauptet haben
kann, ist gewiss. Aber auch dass er, seiner eigensten Grund-
vorstellung zum Trotz, diese populäre Annahme, mit einer
Lässlichkeit, die seiner Art gar nicht entspricht, wenigstens
zugelassen habe, ist nicht glaublich 2). Was hätte ihn dazu

1) Eine Seelenwanderungslehre schreibt dem H. zu Schuster, Hera-
klit
(1873) p. 174 ff. Die hiefür in Anspruch genommenen Aussprüche
des H. (fr. 78; 67; 123) sagen aber nichts dergleichen aus, und es fehlen
in Heraklits Lehrsystem alle Voraussetzungen, auf denen sich ein Seelen-
wanderungsglaube aufbauen könnte.
2) Um zu beweisen, dass Heraklit von einer Fortdauer der einzelnen
Seelen nach einer Trennung vom Leibe geredet habe, beruft man sich
(namentlich Zeller, Philos. d. Gr.4 1, 646 ff.; Pfleiderer, Die Philos.
des Heraklit im Lichte der Mysterienidee
[1886] p. 214 ff.) theils auf Be-
richte späterer Philosophen, theils auf eigene Aussprüche Heraklits.
Platonisirende Philosophen leihen allerdings dem Heraklit eine Seelen-
lehre, die von Präexistenz der einzelnen Seelen, deren "Fall in die
Geburt" und Ausscheiden zu individuellem Sonderleben nach dem Tode
weiss (Numenius bei Porphyr. antr. Nymph. 10; Jamblich bei Stob. ecl.
1, 375, 7; 378, 21 ff. W; Aeneas Gaz. Theophr. p. 5. 7 Boiss.). Aber
diese Berichte sind ersichtlieh nur eigenmächtige Ausdeutungen hera-
klitischer Sätze (metaballon anapauetai, kamatos esti tois autois aei mokhthein
kai arkhesthai) in dem Sinne der jenen Philosophen selbst geläufigen Vor-
stellungen, homiletische, willkürlich geführte Betrachtungen über ganz
kurze und vieldeutige Texte, um so weniger als Zeugnisse über Heraklits
wahre Meinung zu verwenden, als Plotin (6, 1 p. 60, 20 Kirchh.) offen
eingesteht, dass in diesem Punkte Heraklit versäumt habe, saphe emin
poiesai ton logon. Andere lesen in heraklitische Aussprüche sogar die
orphische Lehre vom soma-sema, dem Begrabensein der Seele im Leibe
hinein (Philo, leg. alleg. 1, 33 p. 65 M.; Sext. Emp. hypot. 3, 230),
die man ihm doch im Ernst nicht zuschreiben kann. Dem H. sowenig
wie den Pythagoreern und Platonikern entsteht bei der Geburt des
Menschen die Seele (wie der Popularglaube annahm) ihrer Substanz nach

geschlossener Selbstgleichheit in dem Ab- und Zuströmen des
Feuergeistes schon im Leibesleben nicht geredet werden konnte.
Die Frage nach einer individuellen Unsterblichkeit oder auch
nur Fortdauer der Einzelseele hat für Heraklit kaum einen
Sinn. Auch unter der Form der „Seelenwanderung“ kann er
sie nicht bejaht haben 1). Dass Heraklit ein unverändertes
Bestehen der Seele des einzelnen Menschen, mitten in dem
nie gehemmten Strome des Werdens, in dem jedes Beharren
nur ein Sinnentrug ist, nicht ausdrücklich behauptet haben
kann, ist gewiss. Aber auch dass er, seiner eigensten Grund-
vorstellung zum Trotz, diese populäre Annahme, mit einer
Lässlichkeit, die seiner Art gar nicht entspricht, wenigstens
zugelassen habe, ist nicht glaublich 2). Was hätte ihn dazu

1) Eine Seelenwanderungslehre schreibt dem H. zu Schuster, Hera-
klit
(1873) p. 174 ff. Die hiefür in Anspruch genommenen Aussprüche
des H. (fr. 78; 67; 123) sagen aber nichts dergleichen aus, und es fehlen
in Heraklits Lehrsystem alle Voraussetzungen, auf denen sich ein Seelen-
wanderungsglaube aufbauen könnte.
2) Um zu beweisen, dass Heraklit von einer Fortdauer der einzelnen
Seelen nach einer Trennung vom Leibe geredet habe, beruft man sich
(namentlich Zeller, Philos. d. Gr.4 1, 646 ff.; Pfleiderer, Die Philos.
des Heraklit im Lichte der Mysterienidee
[1886] p. 214 ff.) theils auf Be-
richte späterer Philosophen, theils auf eigene Aussprüche Heraklits.
Platonisirende Philosophen leihen allerdings dem Heraklit eine Seelen-
lehre, die von Präexistenz der einzelnen Seelen, deren „Fall in die
Geburt“ und Ausscheiden zu individuellem Sonderleben nach dem Tode
weiss (Numenius bei Porphyr. antr. Nymph. 10; Jamblich bei Stob. ecl.
1, 375, 7; 378, 21 ff. W; Aeneas Gaz. Theophr. p. 5. 7 Boiss.). Aber
diese Berichte sind ersichtlieh nur eigenmächtige Ausdeutungen hera-
klitischer Sätze (μεταβάλλον ἀναπαύεται, κάματός ἐστι τοῖς αὐτοῖς ἀεὶ μοχϑεῖν
καὶ ἄρχεσϑαι) in dem Sinne der jenen Philosophen selbst geläufigen Vor-
stellungen, homiletische, willkürlich geführte Betrachtungen über ganz
kurze und vieldeutige Texte, um so weniger als Zeugnisse über Heraklits
wahre Meinung zu verwenden, als Plotin (6, 1 p. 60, 20 Kirchh.) offen
eingesteht, dass in diesem Punkte Heraklit versäumt habe, σαφῆ ἡμῖν
ποιῆσαι τὸν λόγον. Andere lesen in heraklitische Aussprüche sogar die
orphische Lehre vom σῶμα-σῆμα, dem Begrabensein der Seele im Leibe
hinein (Philo, leg. alleg. 1, 33 p. 65 M.; Sext. Emp. hypot. 3, 230),
die man ihm doch im Ernst nicht zuschreiben kann. Dem H. sowenig
wie den Pythagoreern und Platonikern entsteht bei der Geburt des
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[442/0458] geschlossener Selbstgleichheit in dem Ab- und Zuströmen des Feuergeistes schon im Leibesleben nicht geredet werden konnte. Die Frage nach einer individuellen Unsterblichkeit oder auch nur Fortdauer der Einzelseele hat für Heraklit kaum einen Sinn. Auch unter der Form der „Seelenwanderung“ kann er sie nicht bejaht haben 1). Dass Heraklit ein unverändertes Bestehen der Seele des einzelnen Menschen, mitten in dem nie gehemmten Strome des Werdens, in dem jedes Beharren nur ein Sinnentrug ist, nicht ausdrücklich behauptet haben kann, ist gewiss. Aber auch dass er, seiner eigensten Grund- vorstellung zum Trotz, diese populäre Annahme, mit einer Lässlichkeit, die seiner Art gar nicht entspricht, wenigstens zugelassen habe, ist nicht glaublich 2). Was hätte ihn dazu 1) Eine Seelenwanderungslehre schreibt dem H. zu Schuster, Hera- klit (1873) p. 174 ff. Die hiefür in Anspruch genommenen Aussprüche des H. (fr. 78; 67; 123) sagen aber nichts dergleichen aus, und es fehlen in Heraklits Lehrsystem alle Voraussetzungen, auf denen sich ein Seelen- wanderungsglaube aufbauen könnte. 2) Um zu beweisen, dass Heraklit von einer Fortdauer der einzelnen Seelen nach einer Trennung vom Leibe geredet habe, beruft man sich (namentlich Zeller, Philos. d. Gr.4 1, 646 ff.; Pfleiderer, Die Philos. des Heraklit im Lichte der Mysterienidee [1886] p. 214 ff.) theils auf Be- richte späterer Philosophen, theils auf eigene Aussprüche Heraklits. Platonisirende Philosophen leihen allerdings dem Heraklit eine Seelen- lehre, die von Präexistenz der einzelnen Seelen, deren „Fall in die Geburt“ und Ausscheiden zu individuellem Sonderleben nach dem Tode weiss (Numenius bei Porphyr. antr. Nymph. 10; Jamblich bei Stob. ecl. 1, 375, 7; 378, 21 ff. W; Aeneas Gaz. Theophr. p. 5. 7 Boiss.). Aber diese Berichte sind ersichtlieh nur eigenmächtige Ausdeutungen hera- klitischer Sätze (μεταβάλλον ἀναπαύεται, κάματός ἐστι τοῖς αὐτοῖς ἀεὶ μοχϑεῖν καὶ ἄρχεσϑαι) in dem Sinne der jenen Philosophen selbst geläufigen Vor- stellungen, homiletische, willkürlich geführte Betrachtungen über ganz kurze und vieldeutige Texte, um so weniger als Zeugnisse über Heraklits wahre Meinung zu verwenden, als Plotin (6, 1 p. 60, 20 Kirchh.) offen eingesteht, dass in diesem Punkte Heraklit versäumt habe, σαφῆ ἡμῖν ποιῆσαι τὸν λόγον. Andere lesen in heraklitische Aussprüche sogar die orphische Lehre vom σῶμα-σῆμα, dem Begrabensein der Seele im Leibe hinein (Philo, leg. alleg. 1, 33 p. 65 M.; Sext. Emp. hypot. 3, 230), die man ihm doch im Ernst nicht zuschreiben kann. Dem H. sowenig wie den Pythagoreern und Platonikern entsteht bei der Geburt des Menschen die Seele (wie der Popularglaube annahm) ihrer Substanz nach

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/458>, abgerufen am 16.06.2024.