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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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den Mysterien in Einklang zu setzen versucht, dass diese ihm
die Richtung seines Denkens gewiesen oder gar ihn verleitet
hätten, von seiner selbstgefundenen Strasse abzuweichen, davon
zeigt sich nirgends eine Spur.

Das Individuum in seiner Absonderung hat für Heraklit
keinen Werth und keine Bedeutung; ein Beharren in dieser
Absonderung (wenn es möglich wäre) würde ihm als Frevel er-
schienen sein 1). Unsterblich, unverlierbar ist ihm das Feuer als
Ganzes; nicht seine Absonderung in einzelnen Partikeln, sondern
allein der Eine Allgeist, der sich in Alles verwandelt, und alles
in sich zurücknimmt. Die Seele des Menschen hat nur als eine
Ausstrahlung dieser Allvernunft an deren Unvergänglichkeit
Antheil; auch sie, wenn sie sich an die Elemente verloren hat,
findet sich immer wieder. In "Bedürfniss" und "Sättigung"
(fr. 24. 36) wechselt ewig dieser Process des Werdens. Einst
wird das Feuer alles "ereilen" (fr. 26); der Gott wird dann
ganz bei sich sein. Aber das ist nicht das Ziel der Welt;
Verwandlung, Werden und Vergehen werden nie zum Ende
kommen. Und sie sollen es nicht; "der Streit" (fr. 43), der die
Welt geschaffen hat und immer neu umgestaltet, ist das innerste
Wesen des Alllebendigen, das er bewegt in unersättlicher Werde-
lust. Denn eine Lust, eine Erholung ist allen Dingen der
Wechsel (fr. 72. 83), das Kommen und Gehen im Spiel des
Werdens.

Es ist das Gegentheil einer quietistischen Stimmung, was
aus der gesammten Lehre des Heraklit, aus dem in lauter

1) Immer noch eher als die Neoplatoniker, die dem H. eine der
orphisch-pythagoreischen ähnliche Seelenlehre zuschreiben, trifft dessen
wahre Meinung der Bericht des [Plut.] dogm. philos. 4, 7 (wo der Name
des Heraklit ausgefallen ist, wie aus Theodoret hervorgeht: s. Diels,
Doxogr. p. 392): -- exiousan (ten anthropou psukhen) eis ten tou pantos
psukhen anakhorein pros to omogenes. Aus dieser (auch nicht wirklich zu-
treffenden) Deutung der Meinung des H. vom Schicksal der Seele nach
dem Tode geht aufs Neue soviel wenigstens hervor, dass die entgegen-
gesetzten Angaben der Neoplatoniker eben auch nur Deutungen, nicht
Zeugnisse, sind.

den Mysterien in Einklang zu setzen versucht, dass diese ihm
die Richtung seines Denkens gewiesen oder gar ihn verleitet
hätten, von seiner selbstgefundenen Strasse abzuweichen, davon
zeigt sich nirgends eine Spur.

Das Individuum in seiner Absonderung hat für Heraklit
keinen Werth und keine Bedeutung; ein Beharren in dieser
Absonderung (wenn es möglich wäre) würde ihm als Frevel er-
schienen sein 1). Unsterblich, unverlierbar ist ihm das Feuer als
Ganzes; nicht seine Absonderung in einzelnen Partikeln, sondern
allein der Eine Allgeist, der sich in Alles verwandelt, und alles
in sich zurücknimmt. Die Seele des Menschen hat nur als eine
Ausstrahlung dieser Allvernunft an deren Unvergänglichkeit
Antheil; auch sie, wenn sie sich an die Elemente verloren hat,
findet sich immer wieder. In „Bedürfniss“ und „Sättigung“
(fr. 24. 36) wechselt ewig dieser Process des Werdens. Einst
wird das Feuer alles „ereilen“ (fr. 26); der Gott wird dann
ganz bei sich sein. Aber das ist nicht das Ziel der Welt;
Verwandlung, Werden und Vergehen werden nie zum Ende
kommen. Und sie sollen es nicht; „der Streit“ (fr. 43), der die
Welt geschaffen hat und immer neu umgestaltet, ist das innerste
Wesen des Alllebendigen, das er bewegt in unersättlicher Werde-
lust. Denn eine Lust, eine Erholung ist allen Dingen der
Wechsel (fr. 72. 83), das Kommen und Gehen im Spiel des
Werdens.

Es ist das Gegentheil einer quietistischen Stimmung, was
aus der gesammten Lehre des Heraklit, aus dem in lauter

1) Immer noch eher als die Neoplatoniker, die dem H. eine der
orphisch-pythagoreischen ähnliche Seelenlehre zuschreiben, trifft dessen
wahre Meinung der Bericht des [Plut.] dogm. philos. 4, 7 (wo der Name
des Heraklit ausgefallen ist, wie aus Theodoret hervorgeht: s. Diels,
Doxogr. p. 392): — ἐξιοῦσαν (τὴν ἀνϑρώπου ψυχήν) εἰς τὴν τοῦ παντὸς
ψυχὴν ἀναχωρεῖν πρὸς τὸ ὁμογενές. Aus dieser (auch nicht wirklich zu-
treffenden) Deutung der Meinung des H. vom Schicksal der Seele nach
dem Tode geht aufs Neue soviel wenigstens hervor, dass die entgegen-
gesetzten Angaben der Neoplatoniker eben auch nur Deutungen, nicht
Zeugnisse, sind.
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[445/0461] den Mysterien in Einklang zu setzen versucht, dass diese ihm die Richtung seines Denkens gewiesen oder gar ihn verleitet hätten, von seiner selbstgefundenen Strasse abzuweichen, davon zeigt sich nirgends eine Spur. Das Individuum in seiner Absonderung hat für Heraklit keinen Werth und keine Bedeutung; ein Beharren in dieser Absonderung (wenn es möglich wäre) würde ihm als Frevel er- schienen sein 1). Unsterblich, unverlierbar ist ihm das Feuer als Ganzes; nicht seine Absonderung in einzelnen Partikeln, sondern allein der Eine Allgeist, der sich in Alles verwandelt, und alles in sich zurücknimmt. Die Seele des Menschen hat nur als eine Ausstrahlung dieser Allvernunft an deren Unvergänglichkeit Antheil; auch sie, wenn sie sich an die Elemente verloren hat, findet sich immer wieder. In „Bedürfniss“ und „Sättigung“ (fr. 24. 36) wechselt ewig dieser Process des Werdens. Einst wird das Feuer alles „ereilen“ (fr. 26); der Gott wird dann ganz bei sich sein. Aber das ist nicht das Ziel der Welt; Verwandlung, Werden und Vergehen werden nie zum Ende kommen. Und sie sollen es nicht; „der Streit“ (fr. 43), der die Welt geschaffen hat und immer neu umgestaltet, ist das innerste Wesen des Alllebendigen, das er bewegt in unersättlicher Werde- lust. Denn eine Lust, eine Erholung ist allen Dingen der Wechsel (fr. 72. 83), das Kommen und Gehen im Spiel des Werdens. Es ist das Gegentheil einer quietistischen Stimmung, was aus der gesammten Lehre des Heraklit, aus dem in lauter 1) Immer noch eher als die Neoplatoniker, die dem H. eine der orphisch-pythagoreischen ähnliche Seelenlehre zuschreiben, trifft dessen wahre Meinung der Bericht des [Plut.] dogm. philos. 4, 7 (wo der Name des Heraklit ausgefallen ist, wie aus Theodoret hervorgeht: s. Diels, Doxogr. p. 392): — ἐξιοῦσαν (τὴν ἀνϑρώπου ψυχήν) εἰς τὴν τοῦ παντὸς ψυχὴν ἀναχωρεῖν πρὸς τὸ ὁμογενές. Aus dieser (auch nicht wirklich zu- treffenden) Deutung der Meinung des H. vom Schicksal der Seele nach dem Tode geht aufs Neue soviel wenigstens hervor, dass die entgegen- gesetzten Angaben der Neoplatoniker eben auch nur Deutungen, nicht Zeugnisse, sind.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/461>, abgerufen am 29.04.2024.