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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Dieser Vorstellung gilt die ganze Mannichfaltigkeit der
Dinge, die sich der Sinneswahrnehmung aufdrängt, als eine
Illusion. Illusion ist auch das Bestehen einer Vielheit beseelter
Wesen, wie die ganze Natur ein Trugbild ist. Nicht von der
"Natur", von dem Inhalte der thatsächlichen Erfahrung, ging
die Philosophie des Parmenides aus. Ohne alle Hilfe der
Erfahrung, lediglich durch Schlussfolgerungen aus einem ein-
zigen zu Grunde gelegten, nur im Denken zu erfassenden Be-
griff (des "Seins") will sie die ganze Fülle der Erkenntniss
gewinnen. Den philosophischen Naturforschern Ioniens war
auch die Seele ein Theil der Natur, die Seelenkunde ein
Theil der Naturkunde gewesen: und dieses Eintauchen des
Seelischen in das Physische war in ihrer Seelenlehre das
Eigenthümliche, das sie von volksthümlicher Psychologie wesent-
lich unterschied. Galt nun die ganze Natur nicht mehr als
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss, so musste auch die
Herleitung der Psychologie aus der Physiologie dahinfallen.
Im Grunde konnte es bei diesen "Aphysikern" 1) eine Seelen-
lehre überhaupt nicht geben.

Mit einer, neben der unerschrockenen Folgerichtigkeit
ihrer rein auf die übersinnliche Verstandeserkenntniss begrün-
deten Betrachtungsweise überraschenden Nachgiebigkeit räumten
gleichwohl die Eleaten dem Augenschein und dem Zwang sinn-
licher Wahrnehmung so viel ein, dass sie eine Theorie physi-
kalischer Entwicklung der Vielheit der Erscheinungen zwar aus
ihren eigenen Grundsätzen nicht ableiteten, aber doch, unver-
mittelt und unvermittelbar, neben ihre starre Seinslehre stellten.
Schon Xenophanes hatte eine, solchermaassen nur bedingt
giltige Physik entworfen. Parmenides entwickelte im zweiten
Theil seines Lehrgedichtes, in "trüglichem Schmucke der
Worte", nicht verlässliche Rede über das wahre Wesen der
Dinge, sondern "menschliche Meinungen" von dem Werden

1) Aristoteles (Sext. Empir. adv. math. 10, 46) aphusikous autous
kekleken, oti arkhe kineseos estin e phusis, en aneilon phamenoi meden ki-
neisthai.

Dieser Vorstellung gilt die ganze Mannichfaltigkeit der
Dinge, die sich der Sinneswahrnehmung aufdrängt, als eine
Illusion. Illusion ist auch das Bestehen einer Vielheit beseelter
Wesen, wie die ganze Natur ein Trugbild ist. Nicht von der
„Natur“, von dem Inhalte der thatsächlichen Erfahrung, ging
die Philosophie des Parmenides aus. Ohne alle Hilfe der
Erfahrung, lediglich durch Schlussfolgerungen aus einem ein-
zigen zu Grunde gelegten, nur im Denken zu erfassenden Be-
griff (des „Seins“) will sie die ganze Fülle der Erkenntniss
gewinnen. Den philosophischen Naturforschern Ioniens war
auch die Seele ein Theil der Natur, die Seelenkunde ein
Theil der Naturkunde gewesen: und dieses Eintauchen des
Seelischen in das Physische war in ihrer Seelenlehre das
Eigenthümliche, das sie von volksthümlicher Psychologie wesent-
lich unterschied. Galt nun die ganze Natur nicht mehr als
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss, so musste auch die
Herleitung der Psychologie aus der Physiologie dahinfallen.
Im Grunde konnte es bei diesen „Aphysikern“ 1) eine Seelen-
lehre überhaupt nicht geben.

Mit einer, neben der unerschrockenen Folgerichtigkeit
ihrer rein auf die übersinnliche Verstandeserkenntniss begrün-
deten Betrachtungsweise überraschenden Nachgiebigkeit räumten
gleichwohl die Eleaten dem Augenschein und dem Zwang sinn-
licher Wahrnehmung so viel ein, dass sie eine Theorie physi-
kalischer Entwicklung der Vielheit der Erscheinungen zwar aus
ihren eigenen Grundsätzen nicht ableiteten, aber doch, unver-
mittelt und unvermittelbar, neben ihre starre Seinslehre stellten.
Schon Xenophanes hatte eine, solchermaassen nur bedingt
giltige Physik entworfen. Parmenides entwickelte im zweiten
Theil seines Lehrgedichtes, in „trüglichem Schmucke der
Worte“, nicht verlässliche Rede über das wahre Wesen der
Dinge, sondern „menschliche Meinungen“ von dem Werden

1) Aristoteles (Sext. Empir. adv. math. 10, 46) ἀφυσίκους αὐτοὺς
κέκληκεν, ὅτι ἀρχὴ κινήσεώς ἐστιν ἡ φύσις, ἣν ἀνεῖλον φάμενοι μηδὲν κι-
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[447/0463] Dieser Vorstellung gilt die ganze Mannichfaltigkeit der Dinge, die sich der Sinneswahrnehmung aufdrängt, als eine Illusion. Illusion ist auch das Bestehen einer Vielheit beseelter Wesen, wie die ganze Natur ein Trugbild ist. Nicht von der „Natur“, von dem Inhalte der thatsächlichen Erfahrung, ging die Philosophie des Parmenides aus. Ohne alle Hilfe der Erfahrung, lediglich durch Schlussfolgerungen aus einem ein- zigen zu Grunde gelegten, nur im Denken zu erfassenden Be- griff (des „Seins“) will sie die ganze Fülle der Erkenntniss gewinnen. Den philosophischen Naturforschern Ioniens war auch die Seele ein Theil der Natur, die Seelenkunde ein Theil der Naturkunde gewesen: und dieses Eintauchen des Seelischen in das Physische war in ihrer Seelenlehre das Eigenthümliche, das sie von volksthümlicher Psychologie wesent- lich unterschied. Galt nun die ganze Natur nicht mehr als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss, so musste auch die Herleitung der Psychologie aus der Physiologie dahinfallen. Im Grunde konnte es bei diesen „Aphysikern“ 1) eine Seelen- lehre überhaupt nicht geben. Mit einer, neben der unerschrockenen Folgerichtigkeit ihrer rein auf die übersinnliche Verstandeserkenntniss begrün- deten Betrachtungsweise überraschenden Nachgiebigkeit räumten gleichwohl die Eleaten dem Augenschein und dem Zwang sinn- licher Wahrnehmung so viel ein, dass sie eine Theorie physi- kalischer Entwicklung der Vielheit der Erscheinungen zwar aus ihren eigenen Grundsätzen nicht ableiteten, aber doch, unver- mittelt und unvermittelbar, neben ihre starre Seinslehre stellten. Schon Xenophanes hatte eine, solchermaassen nur bedingt giltige Physik entworfen. Parmenides entwickelte im zweiten Theil seines Lehrgedichtes, in „trüglichem Schmucke der Worte“, nicht verlässliche Rede über das wahre Wesen der Dinge, sondern „menschliche Meinungen“ von dem Werden 1) Aristoteles (Sext. Empir. adv. math. 10, 46) ἀφυσίκους αὐτοὺς κέκληκεν, ὅτι ἀρχὴ κινήσεώς ἐστιν ἡ φύσις, ἣν ἀνεῖλον φάμενοι μηδὲν κι- νεῖσϑαι.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/463>, abgerufen am 28.04.2024.