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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sichert, es sei zu seiner Zeit eine verbreitete Volksmeinung
gewesen, dass der ausfahrende Seelenhauch des Sterbenden
vom Winde, besonders wenn er gerade im Sturme daherfuhr,
ergriffen, zerstreut, in's Nichts zerblasen werde 1). Sonst
schwebt dem Altgläubigen wohl, wenn sein Ende herannaht,
der Gedanke an das vor, was jenseits der Schwelle des Todes
seiner Seele warten könnte 2). Aber der Gedanke an ein ewiges,
endloses wie anfangsloses Leben seines Seelengeistes kam ihm
gewiss nicht. Plato selbst lässt uns erkennen, wie fremd eine
derartige Vorstellung auch solchen Männern war, die philo-
sophischen Untersuchungen mit Verständniss folgen konnten.
Gegen Ende der langen Unterredung über den besten Staat
fragt sein Sokrates ziemlich unvermittelt den Glaukon: ist dir
nicht bewusst, dass unsere Seele unsterblich ist und nie zu
Grunde geht? Da, heisst es, blickte ihn Glaukon verwundert
an und sagte: nein, wahrhaftig, das ist mir nicht bewusst;
kannst denn Du dergleichen behaupten? 3)

Ein paradoxer Einfall scheint dem, theologischer Seelen-
lehre Fernstehenden die Annahme, dass die Seele des Men-

der beiden Fälle werde er nach dem Tode meden eti kakon pathein: § 27.
-- Aristot. soph. el. 17 p. 176 b, 16: poteron phtharte e athanatos e psukhe
ton zoon, ou dioristai tois pollois, in dieser Frage amphidoxousi sie.
1) Plat. Phaedon 70 A; 77 B; 80 D. Diese Vorstellung der polloi
und der paides sieht freilich eher aus wie ein Aberglaube als wie eine
Leugnung der substantiellen Fortdauer der psukhe (wie es Plato darstellt).
Die Seele als Windgeist ist uns schon vielfach begegnet; fährt sie aus
ihrem Leibe, so reissen die andern Seelenwindgeister sie mit sich fort
(vgl. p. 9, 1), sonderlich wenn die Bewegung des Windes heftig ist. (Wenn
Einer sich aufhängt, entsteht nach deutschem Glauben Sturmwind: Grimm
D. Mythol.4 528. Das heisst wohl, das wüthende Heer, die personificirten
Sturmgeister [Grimm 526; vgl. oben p. 373 ff.], kommen und reissen die
arme ruhelose Seele an sich.)
2) Vgl. Plat. Rep. 1, 330 D/E. -- Ausgeführteres von diesen Dingen
in der Rede gegen Aristogeiton [Demosth. XXV] § 52. 53. Dies ist trotz
der populären Fassung nicht ohne Weiteres als allgemeiner Volksglaube
anzusprechen: der Verfasser dieser Rede ist Orpheusgläubiger, wie er selbst
§ 11 verräth.
3) Plat. Rep. 10, 608 D.

sichert, es sei zu seiner Zeit eine verbreitete Volksmeinung
gewesen, dass der ausfahrende Seelenhauch des Sterbenden
vom Winde, besonders wenn er gerade im Sturme daherfuhr,
ergriffen, zerstreut, in’s Nichts zerblasen werde 1). Sonst
schwebt dem Altgläubigen wohl, wenn sein Ende herannaht,
der Gedanke an das vor, was jenseits der Schwelle des Todes
seiner Seele warten könnte 2). Aber der Gedanke an ein ewiges,
endloses wie anfangsloses Leben seines Seelengeistes kam ihm
gewiss nicht. Plato selbst lässt uns erkennen, wie fremd eine
derartige Vorstellung auch solchen Männern war, die philo-
sophischen Untersuchungen mit Verständniss folgen konnten.
Gegen Ende der langen Unterredung über den besten Staat
fragt sein Sokrates ziemlich unvermittelt den Glaukon: ist dir
nicht bewusst, dass unsere Seele unsterblich ist und nie zu
Grunde geht? Da, heisst es, blickte ihn Glaukon verwundert
an und sagte: nein, wahrhaftig, das ist mir nicht bewusst;
kannst denn Du dergleichen behaupten? 3)

Ein paradoxer Einfall scheint dem, theologischer Seelen-
lehre Fernstehenden die Annahme, dass die Seele des Men-

der beiden Fälle werde er nach dem Tode μηδὲν ἔτι κακὸν παϑεῖν: § 27.
— Aristot. σοφ. ἔλ. 17 p. 176 b, 16: πότερον φϑαρτὴ ἢ ἀϑάνατος ἡ ψυχὴ
τῶν ζῴων, οὐ διώρισται τοῖς πολλοῖς, in dieser Frage ἀμφιδοξοῦσι sie.
1) Plat. Phaedon 70 A; 77 B; 80 D. Diese Vorstellung der πολλοί
und der παῖδες sieht freilich eher aus wie ein Aberglaube als wie eine
Leugnung der substantiellen Fortdauer der ψυχή (wie es Plato darstellt).
Die Seele als Windgeist ist uns schon vielfach begegnet; fährt sie aus
ihrem Leibe, so reissen die andern Seelenwindgeister sie mit sich fort
(vgl. p. 9, 1), sonderlich wenn die Bewegung des Windes heftig ist. (Wenn
Einer sich aufhängt, entsteht nach deutschem Glauben Sturmwind: Grimm
D. Mythol.4 528. Das heisst wohl, das wüthende Heer, die personificirten
Sturmgeister [Grimm 526; vgl. oben p. 373 ff.], kommen und reissen die
arme ruhelose Seele an sich.)
2) Vgl. Plat. Rep. 1, 330 D/E. — Ausgeführteres von diesen Dingen
in der Rede gegen Aristogeiton [Demosth. XXV] § 52. 53. Dies ist trotz
der populären Fassung nicht ohne Weiteres als allgemeiner Volksglaube
anzusprechen: der Verfasser dieser Rede ist Orpheusgläubiger, wie er selbst
§ 11 verräth.
3) Plat. Rep. 10, 608 D.
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[556/0572] sichert, es sei zu seiner Zeit eine verbreitete Volksmeinung gewesen, dass der ausfahrende Seelenhauch des Sterbenden vom Winde, besonders wenn er gerade im Sturme daherfuhr, ergriffen, zerstreut, in’s Nichts zerblasen werde 1). Sonst schwebt dem Altgläubigen wohl, wenn sein Ende herannaht, der Gedanke an das vor, was jenseits der Schwelle des Todes seiner Seele warten könnte 2). Aber der Gedanke an ein ewiges, endloses wie anfangsloses Leben seines Seelengeistes kam ihm gewiss nicht. Plato selbst lässt uns erkennen, wie fremd eine derartige Vorstellung auch solchen Männern war, die philo- sophischen Untersuchungen mit Verständniss folgen konnten. Gegen Ende der langen Unterredung über den besten Staat fragt sein Sokrates ziemlich unvermittelt den Glaukon: ist dir nicht bewusst, dass unsere Seele unsterblich ist und nie zu Grunde geht? Da, heisst es, blickte ihn Glaukon verwundert an und sagte: nein, wahrhaftig, das ist mir nicht bewusst; kannst denn Du dergleichen behaupten? 3) Ein paradoxer Einfall scheint dem, theologischer Seelen- lehre Fernstehenden die Annahme, dass die Seele des Men- 4) 1) Plat. Phaedon 70 A; 77 B; 80 D. Diese Vorstellung der πολλοί und der παῖδες sieht freilich eher aus wie ein Aberglaube als wie eine Leugnung der substantiellen Fortdauer der ψυχή (wie es Plato darstellt). Die Seele als Windgeist ist uns schon vielfach begegnet; fährt sie aus ihrem Leibe, so reissen die andern Seelenwindgeister sie mit sich fort (vgl. p. 9, 1), sonderlich wenn die Bewegung des Windes heftig ist. (Wenn Einer sich aufhängt, entsteht nach deutschem Glauben Sturmwind: Grimm D. Mythol.4 528. Das heisst wohl, das wüthende Heer, die personificirten Sturmgeister [Grimm 526; vgl. oben p. 373 ff.], kommen und reissen die arme ruhelose Seele an sich.) 2) Vgl. Plat. Rep. 1, 330 D/E. — Ausgeführteres von diesen Dingen in der Rede gegen Aristogeiton [Demosth. XXV] § 52. 53. Dies ist trotz der populären Fassung nicht ohne Weiteres als allgemeiner Volksglaube anzusprechen: der Verfasser dieser Rede ist Orpheusgläubiger, wie er selbst § 11 verräth. 3) Plat. Rep. 10, 608 D. 4) der beiden Fälle werde er nach dem Tode μηδὲν ἔτι κακὸν παϑεῖν: § 27. — Aristot. σοφ. ἔλ. 17 p. 176 b, 16: πότερον φϑαρτὴ ἢ ἀϑάνατος ἡ ψυχὴ τῶν ζῴων, οὐ διώρισται τοῖς πολλοῖς, in dieser Frage ἀμφιδοξοῦσι sie.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/572>, abgerufen am 01.05.2024.