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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Es ist dasselbe Reich der Erdtiefe, das auch die Ilias als den
Aufenthalt der Seelen voraussetzt, nur genauer vorgestellt und
vergegenwärtigt 1). Die einzelnen Züge des Bildes werden so
flüchtig erwähnt, dass man fast glauben möchte, auch sie habe
der Dichter bereits in älterer Sagendichtung vorgefunden. Jeden-
falls hat er ja die, auch der Ilias wohlbekannte Styx über-
nommen und so vermuthlich auch die anderen Flüsse, die vom
Feuerbrande (der Leichen? 2), von Wehklagen und Leid leicht
verständliche Namen haben 3). Der Dichter selbst, auf das
Ethische allein sein Augenmerk richtend, ist dem Reiz des leer
Phantastischen geradezu abgeneigt; er begnügt sich mit spar-
samster Zeichnung. So giebt er denn auch von den Bewohnern
des Erebos keine verweilende Schilderung; was er von ihnen
sagt, hält sich völlig in den Grenzen des homerischen Glaubens.
Die Seelen sind Schatten- und Traumbildern gleich, dem Griff
des Lebenden unfassbar 4); sie nahen bewusstlos; einzig Elpenor,
dessen Leib noch unverbrannt liegt, hat eben darum das Be-
wusstsein bewahrt, ja er zeigt eine Art von erhöhetem Bewusst-
sein, das der Prophetengabe nahekommt, nicht anders als

1) Einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vorstellung von
der Lage des Todtenreiches, wie sie die Ilias andeutet und derjenigen,
welche die Nekyia der Odyssee ausführt, kann ich nicht anerkennen.
J. H. Voss und Nitzsch haben hier das Richtige getroffen. Auch was die
zweite Nekyia (Od. 24) an weiteren Einzelheiten hinzubringt, "contrastirt"
nicht eigentlich (wie Teuffel, Stud. u. Charakt. p. 43 meint) mit der
Schilderung der ersten Nekyia, es hält sich nur nicht ängstlich an diese,
beruht aber auf gleichen Grundvorstellungen.
2) Schol. H. Q. Odyss k 514: Puriphlegethon, etoi to pur to aphani-
zon to sarkinon ton broton. Apollodor. p. theon ap. Stob. Ecl. I p. 420, 9:
Puriphlegethon eiretai apo tou puri phlegesthai tous teleutontas.
3) Auch der Acheron scheint als Fluss gedacht. Wenn die Seele
des unbestatteten Patroklos, die doch schon an eurupules Aidos do
schwebt, also über den Okeanos hinüber gedrungen ist, die anderen Seelen
nicht "über den Fluss" lassen (Il. 23, 73 f.), so wird man doch jedenfalls unter
dem "Flusse" nicht den Okeanos verstehen, sondern eben den Acheron
(so auch Porphyrius bei Stob. Ecl. I p. 422 f. 426 W.). Aus Od. 10,
515 folgt keineswegs, dass der Acheron nicht auch als Fluss gelte, son-
dern als See, wie Bergk, Opusc. II 695 meint.
4) Vgl. 11, 206 ff. 209, 393 ff. 475.

Es ist dasselbe Reich der Erdtiefe, das auch die Ilias als den
Aufenthalt der Seelen voraussetzt, nur genauer vorgestellt und
vergegenwärtigt 1). Die einzelnen Züge des Bildes werden so
flüchtig erwähnt, dass man fast glauben möchte, auch sie habe
der Dichter bereits in älterer Sagendichtung vorgefunden. Jeden-
falls hat er ja die, auch der Ilias wohlbekannte Styx über-
nommen und so vermuthlich auch die anderen Flüsse, die vom
Feuerbrande (der Leichen? 2), von Wehklagen und Leid leicht
verständliche Namen haben 3). Der Dichter selbst, auf das
Ethische allein sein Augenmerk richtend, ist dem Reiz des leer
Phantastischen geradezu abgeneigt; er begnügt sich mit spar-
samster Zeichnung. So giebt er denn auch von den Bewohnern
des Erebos keine verweilende Schilderung; was er von ihnen
sagt, hält sich völlig in den Grenzen des homerischen Glaubens.
Die Seelen sind Schatten- und Traumbildern gleich, dem Griff
des Lebenden unfassbar 4); sie nahen bewusstlos; einzig Elpenor,
dessen Leib noch unverbrannt liegt, hat eben darum das Be-
wusstsein bewahrt, ja er zeigt eine Art von erhöhetem Bewusst-
sein, das der Prophetengabe nahekommt, nicht anders als

1) Einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vorstellung von
der Lage des Todtenreiches, wie sie die Ilias andeutet und derjenigen,
welche die Nekyia der Odyssee ausführt, kann ich nicht anerkennen.
J. H. Voss und Nitzsch haben hier das Richtige getroffen. Auch was die
zweite Nekyia (Od. 24) an weiteren Einzelheiten hinzubringt, „contrastirt“
nicht eigentlich (wie Teuffel, Stud. u. Charakt. p. 43 meint) mit der
Schilderung der ersten Nekyia, es hält sich nur nicht ängstlich an diese,
beruht aber auf gleichen Grundvorstellungen.
2) Schol. H. Q. Odyss κ 514: Πυριφλεγέϑων, ἤτοι τὸ πῦρ τὸ ἀφανί-
ζον τὸ σάρκινον τῶν βροτῶν. Apollodor. π. ϑεῶν ap. Stob. Ecl. I p. 420, 9:
Πυριφλεγέϑων εἴρηται ἀπὸ τοῦ πυρὶ φλέγεσϑαι τοὺς τελευτῶντας.
3) Auch der Acheron scheint als Fluss gedacht. Wenn die Seele
des unbestatteten Patroklos, die doch schon ἀν̕ εὐρυπυλὲς Ἄϊδος δῶ
schwebt, also über den Okeanos hinüber gedrungen ist, die anderen Seelen
nicht „über den Fluss“ lassen (Il. 23, 73 f.), so wird man doch jedenfalls unter
dem „Flusse“ nicht den Okeanos verstehen, sondern eben den Acheron
(so auch Porphyrius bei Stob. Ecl. I p. 422 f. 426 W.). Aus Od. 10,
515 folgt keineswegs, dass der Acheron nicht auch als Fluss gelte, son-
dern als See, wie Bergk, Opusc. II 695 meint.
4) Vgl. 11, 206 ff. 209, 393 ff. 475.
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[50/0066] Es ist dasselbe Reich der Erdtiefe, das auch die Ilias als den Aufenthalt der Seelen voraussetzt, nur genauer vorgestellt und vergegenwärtigt 1). Die einzelnen Züge des Bildes werden so flüchtig erwähnt, dass man fast glauben möchte, auch sie habe der Dichter bereits in älterer Sagendichtung vorgefunden. Jeden- falls hat er ja die, auch der Ilias wohlbekannte Styx über- nommen und so vermuthlich auch die anderen Flüsse, die vom Feuerbrande (der Leichen? 2), von Wehklagen und Leid leicht verständliche Namen haben 3). Der Dichter selbst, auf das Ethische allein sein Augenmerk richtend, ist dem Reiz des leer Phantastischen geradezu abgeneigt; er begnügt sich mit spar- samster Zeichnung. So giebt er denn auch von den Bewohnern des Erebos keine verweilende Schilderung; was er von ihnen sagt, hält sich völlig in den Grenzen des homerischen Glaubens. Die Seelen sind Schatten- und Traumbildern gleich, dem Griff des Lebenden unfassbar 4); sie nahen bewusstlos; einzig Elpenor, dessen Leib noch unverbrannt liegt, hat eben darum das Be- wusstsein bewahrt, ja er zeigt eine Art von erhöhetem Bewusst- sein, das der Prophetengabe nahekommt, nicht anders als 1) Einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vorstellung von der Lage des Todtenreiches, wie sie die Ilias andeutet und derjenigen, welche die Nekyia der Odyssee ausführt, kann ich nicht anerkennen. J. H. Voss und Nitzsch haben hier das Richtige getroffen. Auch was die zweite Nekyia (Od. 24) an weiteren Einzelheiten hinzubringt, „contrastirt“ nicht eigentlich (wie Teuffel, Stud. u. Charakt. p. 43 meint) mit der Schilderung der ersten Nekyia, es hält sich nur nicht ängstlich an diese, beruht aber auf gleichen Grundvorstellungen. 2) Schol. H. Q. Odyss κ 514: Πυριφλεγέϑων, ἤτοι τὸ πῦρ τὸ ἀφανί- ζον τὸ σάρκινον τῶν βροτῶν. Apollodor. π. ϑεῶν ap. Stob. Ecl. I p. 420, 9: Πυριφλεγέϑων εἴρηται ἀπὸ τοῦ πυρὶ φλέγεσϑαι τοὺς τελευτῶντας. 3) Auch der Acheron scheint als Fluss gedacht. Wenn die Seele des unbestatteten Patroklos, die doch schon ἀν̕ εὐρυπυλὲς Ἄϊδος δῶ schwebt, also über den Okeanos hinüber gedrungen ist, die anderen Seelen nicht „über den Fluss“ lassen (Il. 23, 73 f.), so wird man doch jedenfalls unter dem „Flusse“ nicht den Okeanos verstehen, sondern eben den Acheron (so auch Porphyrius bei Stob. Ecl. I p. 422 f. 426 W.). Aus Od. 10, 515 folgt keineswegs, dass der Acheron nicht auch als Fluss gelte, son- dern als See, wie Bergk, Opusc. II 695 meint. 4) Vgl. 11, 206 ff. 209, 393 ff. 475.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/66>, abgerufen am 29.04.2024.