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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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glauben, für gewöhnlich nicht todt, es schläft nur. Zweifellos
wollte der Dichter, der solche Fiction für seine Dichtung nicht
entbehren konnte, damit nicht ein neues Dogma aufgerichtet
haben. Aber um seinen rein dichterischen Zweck zu erreichen,
muss er in seine Erzählung einzelne Züge verflechten, die, aus
seinem eigenen Glauben nicht erklärlich, hinüber oder eigentlich
zurück leiten in alten, ganz anders gearteten Glauben und auf
diesem errichteten Brauch. Er lässt den Odysseus, nach An-
weisung der Kirke, am Eingang des Hades eine Grube graben,
einen Weiheguss "für alle Todten" herumgiessen, zuerst eine
Mischung von Milch und Honig, dann Wein, Wasser, darauf
wird weisses Mehl gestreut. Nachher schlachtet er einen Widder
und ein schwarzes Mutterschaf, ihre Köpfe in die Grube
drückend 1); die Leiber der Thiere werden verbrannt, um das
Blut versammeln sich die heranschwebenden Seelen, die des Odys-
seus Schwert fern zu halten vermag 2), bis Tiresias als erster
getrunken hat. -- Hier ist der Weiheguss ganz unzweifelhaft
eine Opfergabe, den Seelen zur Labung ausgegossen. Die
Schlachtung der Thiere will der Dichter allerdings nicht als
Opfer angesehen wissen, der Genuss des Blutes soll nur den
Seelen das Bewusstsein (dem Tiresias, dessen Bewusstsein un-
verletzt ist, die Gabe des vorausschauenden Seherblickes) wieder-
geben. Aber man sieht wohl, dass dies eben nur eine Fiction
des Dichters ist; was er darstellt, ist bis in alle Einzelheiten
hinein ein Todtenopfer, wie es uns unverhohlen als solches in

1) oin arneion Rezein, thelun te melainan, eis Erebos strepsas. 10, 527 f.
Aus dem melainan wird auch zu oin arneion die genauere Bestimmung
"schwarz" apo koinou zu verstehen sein (ebenso 572); stets ist der den
Unterirdischen (Göttern wie Seelen) zu opfernde Widder schwarz. -- eis
Erebos strepsas, d. h. nach unten (nicht nach Westen) hin den Kopf
drehend (= es bothron 11, 36), wie Nitzsch richtig erklärt. Alles wie
später stets bei den entoma für Unterirdische (vgl. Stengel, Ztsch. f. Gymn.
Wesen
1880 p. 743 f.).
2) koine tis para anthropois estin upolepsis oti nekroi kai daimones
sideron phobountai. Schol. Q. l 48. Eigentlich ging der Glaube dahin,
dass der Schall von Erz oder Eisen die Gespenster verjage: Lucian,
Philops. 15 (vgl. O. Jahn, Abergl. d. bösen Blicks p. 79).

glauben, für gewöhnlich nicht todt, es schläft nur. Zweifellos
wollte der Dichter, der solche Fiction für seine Dichtung nicht
entbehren konnte, damit nicht ein neues Dogma aufgerichtet
haben. Aber um seinen rein dichterischen Zweck zu erreichen,
muss er in seine Erzählung einzelne Züge verflechten, die, aus
seinem eigenen Glauben nicht erklärlich, hinüber oder eigentlich
zurück leiten in alten, ganz anders gearteten Glauben und auf
diesem errichteten Brauch. Er lässt den Odysseus, nach An-
weisung der Kirke, am Eingang des Hades eine Grube graben,
einen Weiheguss „für alle Todten“ herumgiessen, zuerst eine
Mischung von Milch und Honig, dann Wein, Wasser, darauf
wird weisses Mehl gestreut. Nachher schlachtet er einen Widder
und ein schwarzes Mutterschaf, ihre Köpfe in die Grube
drückend 1); die Leiber der Thiere werden verbrannt, um das
Blut versammeln sich die heranschwebenden Seelen, die des Odys-
seus Schwert fern zu halten vermag 2), bis Tiresias als erster
getrunken hat. — Hier ist der Weiheguss ganz unzweifelhaft
eine Opfergabe, den Seelen zur Labung ausgegossen. Die
Schlachtung der Thiere will der Dichter allerdings nicht als
Opfer angesehen wissen, der Genuss des Blutes soll nur den
Seelen das Bewusstsein (dem Tiresias, dessen Bewusstsein un-
verletzt ist, die Gabe des vorausschauenden Seherblickes) wieder-
geben. Aber man sieht wohl, dass dies eben nur eine Fiction
des Dichters ist; was er darstellt, ist bis in alle Einzelheiten
hinein ein Todtenopfer, wie es uns unverhohlen als solches in

1) ὄϊν ἀρνειὸν ῥέζειν, ϑῆλύν τε μέλαιναν, εὶς Ἔρεβος στρέψας. 10, 527 f.
Aus dem μέλαιναν wird auch zu ὄϊν ἀρνειόν die genauere Bestimmung
„schwarz“ ἀπὸ κοινοῦ zu verstehen sein (ebenso 572); stets ist der den
Unterirdischen (Göttern wie Seelen) zu opfernde Widder schwarz. — εἰς
Ἔρεβος στρέψας, d. h. nach unten (nicht nach Westen) hin den Kopf
drehend (= ἐς βόϑρον 11, 36), wie Nitzsch richtig erklärt. Alles wie
später stets bei den ἔντομα für Unterirdische (vgl. Stengel, Ztsch. f. Gymn.
Wesen
1880 p. 743 f.).
2) κοινή τις παρἀ ἀνϑρώποις ἐστιν ὑπόληψις ὅτι νεκροὶ καὶ δαίμονες
σίδηρον φοβοῦνται. Schol. Q. λ 48. Eigentlich ging der Glaube dahin,
dass der Schall von Erz oder Eisen die Gespenster verjage: Lucian,
Philops. 15 (vgl. O. Jahn, Abergl. d. bösen Blicks p. 79).
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[52/0068] glauben, für gewöhnlich nicht todt, es schläft nur. Zweifellos wollte der Dichter, der solche Fiction für seine Dichtung nicht entbehren konnte, damit nicht ein neues Dogma aufgerichtet haben. Aber um seinen rein dichterischen Zweck zu erreichen, muss er in seine Erzählung einzelne Züge verflechten, die, aus seinem eigenen Glauben nicht erklärlich, hinüber oder eigentlich zurück leiten in alten, ganz anders gearteten Glauben und auf diesem errichteten Brauch. Er lässt den Odysseus, nach An- weisung der Kirke, am Eingang des Hades eine Grube graben, einen Weiheguss „für alle Todten“ herumgiessen, zuerst eine Mischung von Milch und Honig, dann Wein, Wasser, darauf wird weisses Mehl gestreut. Nachher schlachtet er einen Widder und ein schwarzes Mutterschaf, ihre Köpfe in die Grube drückend 1); die Leiber der Thiere werden verbrannt, um das Blut versammeln sich die heranschwebenden Seelen, die des Odys- seus Schwert fern zu halten vermag 2), bis Tiresias als erster getrunken hat. — Hier ist der Weiheguss ganz unzweifelhaft eine Opfergabe, den Seelen zur Labung ausgegossen. Die Schlachtung der Thiere will der Dichter allerdings nicht als Opfer angesehen wissen, der Genuss des Blutes soll nur den Seelen das Bewusstsein (dem Tiresias, dessen Bewusstsein un- verletzt ist, die Gabe des vorausschauenden Seherblickes) wieder- geben. Aber man sieht wohl, dass dies eben nur eine Fiction des Dichters ist; was er darstellt, ist bis in alle Einzelheiten hinein ein Todtenopfer, wie es uns unverhohlen als solches in 1) ὄϊν ἀρνειὸν ῥέζειν, ϑῆλύν τε μέλαιναν, εὶς Ἔρεβος στρέψας. 10, 527 f. Aus dem μέλαιναν wird auch zu ὄϊν ἀρνειόν die genauere Bestimmung „schwarz“ ἀπὸ κοινοῦ zu verstehen sein (ebenso 572); stets ist der den Unterirdischen (Göttern wie Seelen) zu opfernde Widder schwarz. — εἰς Ἔρεβος στρέψας, d. h. nach unten (nicht nach Westen) hin den Kopf drehend (= ἐς βόϑρον 11, 36), wie Nitzsch richtig erklärt. Alles wie später stets bei den ἔντομα für Unterirdische (vgl. Stengel, Ztsch. f. Gymn. Wesen 1880 p. 743 f.). 2) κοινή τις παρἀ ἀνϑρώποις ἐστιν ὑπόληψις ὅτι νεκροὶ καὶ δαίμονες σίδηρον φοβοῦνται. Schol. Q. λ 48. Eigentlich ging der Glaube dahin, dass der Schall von Erz oder Eisen die Gespenster verjage: Lucian, Philops. 15 (vgl. O. Jahn, Abergl. d. bösen Blicks p. 79).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/68>, abgerufen am 29.04.2024.