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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728.

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Vom Range.
Retirade an einen einsamen Ort seinen Umständen
gemäß, so kan vielleicht bey ihm auch eintreffen,
was bey vielen schon wahr worden: Bene qui la-
tinit, bene vixit.
Es heist ohnedem alterius non
sit, qui suus esse potest.
Jst er aber fremder
Dienste benöthiget, oder er befindet, daß er GOtt
und seinen Nächsten besser dienen kan, wenn er sich
dem Publico zeiget, als da er sich in eine Einsiedley
einschliessen solte, so veränderte er den Ort oder gar
das Land, und versucht sein Glück anders wo. Das
Vaterland ist allenthalben wo man seyn soll. Ein
Prophet gilt ohnedem, nach dem Ausspruch unsers
Heylandes, nirgends weniger, als in seinem Vater-
lande. Es ist mancher von Gelehrten und Unge-
lehrten, von Hof-Leuten und andern an einem frem-
den Orte mit besondrer Ehre angesehen worden, der
in seinem Vaterland verachtet gelebt, und gar nicht
aufkommen können. Es ist wahr, es ist eine große
Regel der Klugheit, lerne Gedult haben, und heist
es nicht allein von Leipzig vult expectari, sondern
wahrhafftig auch von allen und jeden Oertern.
Wer nicht gelernt hat, Gedult zu haben, wird sich
gemeiniglich durch seine Ungedult unglückseeliger
machen. Es ist aber auch nicht minder eine große
Regel der Klugheit, den Ort verändern lernen, und
das rechte Tempo zu treffen. Dieses rechte Tem-
po
aber kan ich nicht wohl durch Regeln bestim-
men, sondern ein jeder muß es nach Beschaffenheit
seiner Umstände finden lernen. Das beste ist, wenn
man es der göttlichen Providenz überläst, und den

grossen
J 5

Vom Range.
Retirade an einen einſamen Ort ſeinen Umſtaͤnden
gemaͤß, ſo kan vielleicht bey ihm auch eintreffen,
was bey vielen ſchon wahr worden: Bene qui la-
tinit, bene vixit.
Es heiſt ohnedem alterius non
ſit, qui ſuus eſſe poteſt.
Jſt er aber fremder
Dienſte benoͤthiget, oder er befindet, daß er GOtt
und ſeinen Naͤchſten beſſer dienen kan, wenn er ſich
dem Publico zeiget, als da er ſich in eine Einſiedley
einſchlieſſen ſolte, ſo veraͤnderte er den Ort oder gar
das Land, und verſucht ſein Gluͤck anders wo. Das
Vaterland iſt allenthalben wo man ſeyn ſoll. Ein
Prophet gilt ohnedem, nach dem Ausſpruch unſers
Heylandes, nirgends weniger, als in ſeinem Vater-
lande. Es iſt mancher von Gelehrten und Unge-
lehrten, von Hof-Leuten und andern an einem frem-
den Orte mit beſondrer Ehre angeſehen worden, der
in ſeinem Vaterland verachtet gelebt, und gar nicht
aufkommen koͤnnen. Es iſt wahr, es iſt eine große
Regel der Klugheit, lerne Gedult haben, und heiſt
es nicht allein von Leipzig vult expectari, ſondern
wahrhafftig auch von allen und jeden Oertern.
Wer nicht gelernt hat, Gedult zu haben, wird ſich
gemeiniglich durch ſeine Ungedult ungluͤckſeeliger
machen. Es iſt aber auch nicht minder eine große
Regel der Klugheit, den Ort veraͤndern lernen, und
das rechte Tempo zu treffen. Dieſes rechte Tem-
po
aber kan ich nicht wohl durch Regeln beſtim-
men, ſondern ein jeder muß es nach Beſchaffenheit
ſeiner Umſtaͤnde finden lernen. Das beſte iſt, wenn
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J 5
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[137/0157] Vom Range. Retirade an einen einſamen Ort ſeinen Umſtaͤnden gemaͤß, ſo kan vielleicht bey ihm auch eintreffen, was bey vielen ſchon wahr worden: Bene qui la- tinit, bene vixit. Es heiſt ohnedem alterius non ſit, qui ſuus eſſe poteſt. Jſt er aber fremder Dienſte benoͤthiget, oder er befindet, daß er GOtt und ſeinen Naͤchſten beſſer dienen kan, wenn er ſich dem Publico zeiget, als da er ſich in eine Einſiedley einſchlieſſen ſolte, ſo veraͤnderte er den Ort oder gar das Land, und verſucht ſein Gluͤck anders wo. Das Vaterland iſt allenthalben wo man ſeyn ſoll. Ein Prophet gilt ohnedem, nach dem Ausſpruch unſers Heylandes, nirgends weniger, als in ſeinem Vater- lande. Es iſt mancher von Gelehrten und Unge- lehrten, von Hof-Leuten und andern an einem frem- den Orte mit beſondrer Ehre angeſehen worden, der in ſeinem Vaterland verachtet gelebt, und gar nicht aufkommen koͤnnen. Es iſt wahr, es iſt eine große Regel der Klugheit, lerne Gedult haben, und heiſt es nicht allein von Leipzig vult expectari, ſondern wahrhafftig auch von allen und jeden Oertern. Wer nicht gelernt hat, Gedult zu haben, wird ſich gemeiniglich durch ſeine Ungedult ungluͤckſeeliger machen. Es iſt aber auch nicht minder eine große Regel der Klugheit, den Ort veraͤndern lernen, und das rechte Tempo zu treffen. Dieſes rechte Tem- po aber kan ich nicht wohl durch Regeln beſtim- men, ſondern ein jeder muß es nach Beſchaffenheit ſeiner Umſtaͤnde finden lernen. Das beſte iſt, wenn man es der goͤttlichen Providenz uͤberlaͤſt, und den groſſen J 5

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Zitationshilfe: Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/157>, abgerufen am 30.04.2024.