Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

an ihrem Ufer die tausend Herzen des Sauerklee's
und der Wildkresse, die der Hirsch so gerne pflückt
und das Reh, auf daß sie ihre Lunge nicht ver-
lasse zur gefährlichen Stunde der Flucht.

An der Lehne neben Dornstrauch und wilden
Rosen liegt vom Sturme hingeworfen seit vielen
Jahren das Gerippe einer mächtigen Fichte, schier
weiß, wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln
auf, wie einst ihr Wipfel, und eine Schnecke hat
sich verirrt in einen starren Zweig der Wurzel
hinaus und kann ihren Weg kaum finden zum
Erdreich zurück.

Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt
heran, oder das Schellen und Meckern einer Ziege.
Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wachholder-
sträuchen mag er nichts zu schaffen haben, die
Nadeln stechen, die blauen Beeren sind bitter.
Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube, oder, was
ihm lieber ist, in den Mund. Dann pflückt er das
schmale, spitzige Blatt einer Enziane, führt es zur
Lippe und bringt durch dasselbe einen Pfiff hervor,
der weithin hallt in den Hängen und den in der
Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das
ist dem Völklein des Waldes das Zeichen seiner
Brüderlichkeit.

Durch das Himbeergestrüppe windet sich ein
halblahmer Pecher, oder ein schiefäugiger Wurzel-

an ihrem Ufer die tauſend Herzen des Sauerklee’s
und der Wildkreſſe, die der Hirſch ſo gerne pflückt
und das Reh, auf daß ſie ihre Lunge nicht ver-
laſſe zur gefährlichen Stunde der Flucht.

An der Lehne neben Dornſtrauch und wilden
Roſen liegt vom Sturme hingeworfen ſeit vielen
Jahren das Gerippe einer mächtigen Fichte, ſchier
weiß, wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln
auf, wie einſt ihr Wipfel, und eine Schnecke hat
ſich verirrt in einen ſtarren Zweig der Wurzel
hinaus und kann ihren Weg kaum finden zum
Erdreich zurück.

Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt
heran, oder das Schellen und Meckern einer Ziege.
Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wachholder-
ſträuchen mag er nichts zu ſchaffen haben, die
Nadeln ſtechen, die blauen Beeren ſind bitter.
Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube, oder, was
ihm lieber iſt, in den Mund. Dann pflückt er das
ſchmale, ſpitzige Blatt einer Enziane, führt es zur
Lippe und bringt durch dasſelbe einen Pfiff hervor,
der weithin hallt in den Hängen und den in der
Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das
iſt dem Völklein des Waldes das Zeichen ſeiner
Brüderlichkeit.

Durch das Himbeergeſtrüppe windet ſich ein
halblahmer Pecher, oder ein ſchiefäugiger Wurzel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="82"/>
an ihrem Ufer die tau&#x017F;end Herzen des Sauerklee&#x2019;s<lb/>
und der Wildkre&#x017F;&#x017F;e, die der Hir&#x017F;ch &#x017F;o gerne pflückt<lb/>
und das Reh, auf daß &#x017F;ie ihre Lunge nicht ver-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;e zur gefährlichen Stunde der Flucht.</p><lb/>
          <p>An der Lehne neben Dorn&#x017F;trauch und wilden<lb/>
Ro&#x017F;en liegt vom Sturme hingeworfen &#x017F;eit vielen<lb/>
Jahren das Gerippe einer mächtigen Fichte, &#x017F;chier<lb/>
weiß, wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln<lb/>
auf, wie ein&#x017F;t ihr Wipfel, und eine Schnecke hat<lb/>
&#x017F;ich verirrt in einen &#x017F;tarren Zweig der Wurzel<lb/>
hinaus und kann ihren Weg kaum finden zum<lb/>
Erdreich zurück.</p><lb/>
          <p>Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt<lb/>
heran, oder das Schellen und Meckern einer Ziege.<lb/>
Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wachholder-<lb/>
&#x017F;träuchen mag er nichts zu &#x017F;chaffen haben, die<lb/>
Nadeln &#x017F;techen, die blauen Beeren &#x017F;ind bitter.<lb/>
Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube, oder, was<lb/>
ihm lieber i&#x017F;t, in den Mund. Dann pflückt er das<lb/>
&#x017F;chmale, &#x017F;pitzige Blatt einer Enziane, führt es zur<lb/>
Lippe und bringt durch das&#x017F;elbe einen Pfiff hervor,<lb/>
der weithin hallt in den Hängen und den in der<lb/>
Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das<lb/>
i&#x017F;t dem Völklein des Waldes das Zeichen &#x017F;einer<lb/>
Brüderlichkeit.</p><lb/>
          <p>Durch das Himbeerge&#x017F;trüppe windet &#x017F;ich ein<lb/>
halblahmer Pecher, oder ein &#x017F;chiefäugiger Wurzel-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0092] an ihrem Ufer die tauſend Herzen des Sauerklee’s und der Wildkreſſe, die der Hirſch ſo gerne pflückt und das Reh, auf daß ſie ihre Lunge nicht ver- laſſe zur gefährlichen Stunde der Flucht. An der Lehne neben Dornſtrauch und wilden Roſen liegt vom Sturme hingeworfen ſeit vielen Jahren das Gerippe einer mächtigen Fichte, ſchier weiß, wie Elfenbein. Hoch ragen ihre Wurzeln auf, wie einſt ihr Wipfel, und eine Schnecke hat ſich verirrt in einen ſtarren Zweig der Wurzel hinaus und kann ihren Weg kaum finden zum Erdreich zurück. Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt heran, oder das Schellen und Meckern einer Ziege. Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wachholder- ſträuchen mag er nichts zu ſchaffen haben, die Nadeln ſtechen, die blauen Beeren ſind bitter. Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube, oder, was ihm lieber iſt, in den Mund. Dann pflückt er das ſchmale, ſpitzige Blatt einer Enziane, führt es zur Lippe und bringt durch dasſelbe einen Pfiff hervor, der weithin hallt in den Hängen und den in der Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das iſt dem Völklein des Waldes das Zeichen ſeiner Brüderlichkeit. Durch das Himbeergeſtrüppe windet ſich ein halblahmer Pecher, oder ein ſchiefäugiger Wurzel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/92
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/92>, abgerufen am 08.05.2024.