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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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corrigirt dann selbst den Fehler d. h. das Gebauete stürzt
wieder ein; eine theure Art der Correctur, die aber in unserer
Zeit sehr beliebt ist. Scheinbar kann der Schwerpunct ver¬
rückt sein, allein nicht thatsächlich. So ist der schiefe Thurm
zu Pisa mit dem fundamentalen Gesetz der Architektur nur
scheinbar in Widerspruch; er ist ein Kunststück des technischen
Uebermuthes; Niemand aber wird dies schön finden, denn die
Baukunst soll auch in der größten Kühnheit der Verhältnisse
das Gefühl der Sicherheit und der Dauer erzeugen. Erst
wenn dieser primitiven Forderung genügt ist, können auch
andere architektonische Consequenzen befriedigt werden. Ein
Bau muß in der Erde ruhen, soll aber, falls er nicht Hypo¬
gäenbau ist, über die Erde hinaus sich in die Lüfte erstrecken,
denn die Materie soll ja eben die Materie -- die Wand die
Decke -- tragen. Diese aus der Mutter Erde zum Himmel
emporstrebende Tragkraft verleihet erst jedem Bau seinen
charakteristischen Schwung, seine Freiheit. Es ist also die
Beachtung des Schwerpunctes die innere, centripetale, die
Beachtung des Aufsteigens aus der Erde die äußere, cen¬
trifugale Correctheit zu nennen. So ist es z. B. an Klenze's
sonst trefflicher Glyptothek zu München incorrect, daß sie
sich so wenig aus der Fundamentirung hervorhebt.

Für die Plastik entsteht die ihr eigene Incorrectheit aus
dem Verfehlen der natürlichen Maaßverhältnisse der leben¬
digen, insbesondere der menschlichen Gestalt. Die plastischen
Werke stellen sich uns in der Fülle aller Raumdimensionen
als beharrende Erscheinung hin und verletzen deshalb unser
Gefühl durch Unmaaß, Uebermaaß, falsche Bildung, un¬
mögliche Stellungen, auf das Empfindlichste. Der berühmte
Kanon des Polyklet verdankt seinen Ursprung dem Be¬
dürfniß der Kunst, die normalen Proportionen der Menschen¬

corrigirt dann ſelbſt den Fehler d. h. das Gebauete ſtürzt
wieder ein; eine theure Art der Correctur, die aber in unſerer
Zeit ſehr beliebt iſt. Scheinbar kann der Schwerpunct ver¬
rückt ſein, allein nicht thatſächlich. So iſt der ſchiefe Thurm
zu Piſa mit dem fundamentalen Geſetz der Architektur nur
ſcheinbar in Widerſpruch; er iſt ein Kunſtſtück des techniſchen
Uebermuthes; Niemand aber wird dies ſchön finden, denn die
Baukunſt ſoll auch in der größten Kühnheit der Verhältniſſe
das Gefühl der Sicherheit und der Dauer erzeugen. Erſt
wenn dieſer primitiven Forderung genügt iſt, können auch
andere architektoniſche Conſequenzen befriedigt werden. Ein
Bau muß in der Erde ruhen, ſoll aber, falls er nicht Hypo¬
gäenbau iſt, über die Erde hinaus ſich in die Lüfte erſtrecken,
denn die Materie ſoll ja eben die Materie — die Wand die
Decke — tragen. Dieſe aus der Mutter Erde zum Himmel
emporſtrebende Tragkraft verleihet erſt jedem Bau ſeinen
charakteriſtiſchen Schwung, ſeine Freiheit. Es iſt alſo die
Beachtung des Schwerpunctes die innere, centripetale, die
Beachtung des Aufſteigens aus der Erde die äußere, cen¬
trifugale Correctheit zu nennen. So iſt es z. B. an Klenze's
ſonſt trefflicher Glyptothek zu München incorrect, daß ſie
ſich ſo wenig aus der Fundamentirung hervorhebt.

Für die Plaſtik entſteht die ihr eigene Incorrectheit aus
dem Verfehlen der natürlichen Maaßverhältniſſe der leben¬
digen, insbeſondere der menſchlichen Geſtalt. Die plaſtiſchen
Werke ſtellen ſich uns in der Fülle aller Raumdimenſionen
als beharrende Erſcheinung hin und verletzen deshalb unſer
Gefühl durch Unmaaß, Uebermaaß, falſche Bildung, un¬
mögliche Stellungen, auf das Empfindlichſte. Der berühmte
Kanon des Polyklet verdankt ſeinen Urſprung dem Be¬
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[151/0173] corrigirt dann ſelbſt den Fehler d. h. das Gebauete ſtürzt wieder ein; eine theure Art der Correctur, die aber in unſerer Zeit ſehr beliebt iſt. Scheinbar kann der Schwerpunct ver¬ rückt ſein, allein nicht thatſächlich. So iſt der ſchiefe Thurm zu Piſa mit dem fundamentalen Geſetz der Architektur nur ſcheinbar in Widerſpruch; er iſt ein Kunſtſtück des techniſchen Uebermuthes; Niemand aber wird dies ſchön finden, denn die Baukunſt ſoll auch in der größten Kühnheit der Verhältniſſe das Gefühl der Sicherheit und der Dauer erzeugen. Erſt wenn dieſer primitiven Forderung genügt iſt, können auch andere architektoniſche Conſequenzen befriedigt werden. Ein Bau muß in der Erde ruhen, ſoll aber, falls er nicht Hypo¬ gäenbau iſt, über die Erde hinaus ſich in die Lüfte erſtrecken, denn die Materie ſoll ja eben die Materie — die Wand die Decke — tragen. Dieſe aus der Mutter Erde zum Himmel emporſtrebende Tragkraft verleihet erſt jedem Bau ſeinen charakteriſtiſchen Schwung, ſeine Freiheit. Es iſt alſo die Beachtung des Schwerpunctes die innere, centripetale, die Beachtung des Aufſteigens aus der Erde die äußere, cen¬ trifugale Correctheit zu nennen. So iſt es z. B. an Klenze's ſonſt trefflicher Glyptothek zu München incorrect, daß ſie ſich ſo wenig aus der Fundamentirung hervorhebt. Für die Plaſtik entſteht die ihr eigene Incorrectheit aus dem Verfehlen der natürlichen Maaßverhältniſſe der leben¬ digen, insbeſondere der menſchlichen Geſtalt. Die plaſtiſchen Werke ſtellen ſich uns in der Fülle aller Raumdimenſionen als beharrende Erſcheinung hin und verletzen deshalb unſer Gefühl durch Unmaaß, Uebermaaß, falſche Bildung, un¬ mögliche Stellungen, auf das Empfindlichſte. Der berühmte Kanon des Polyklet verdankt ſeinen Urſprung dem Be¬ dürfniß der Kunſt, die normalen Proportionen der Menſchen¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/173>, abgerufen am 29.04.2024.