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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Auffassung, die nichts als häßliche Producte zur Folge haben
konnte. Der Wahnsinnige hat das Vorrecht, Gedanken,
die sonst nur im philosophischen Skepticismus nicht ruchlos
sein würden, oder die als revolutionaire Manifeste der ge¬
ängsteten Seele nur den Traum durchzucken dürfen, mit
ungezügelter Parrhesie zu äußern. Um aber schön zu sein,
muß die Alles durch einander wühlende Raserei einen ästhetisch
individualisirenden Mittelpunct haben, der den Drang der
excentrischen Gedanken doch nicht ins absolut Leere ver¬
schweben, vielmehr in ihn wieder gravitiren läßt. Der Dichter
muß dem Irren ein allgemein interessirendes Thema zu
seinen ins Absurde ausschweifenden Variationen geben. So
hat Gretchens Wahnsinn im Kerker ein solches Centrum an
dem Gedanken, wegen der Liebe zum Manne die zur Mutter
und zum Kinde verletzt zu haben; so Augustino im Meister
an der Vorstellung des Fatalismus; Lear an der verletzten
Auctorität des Königs und Vaters u. s. w. Die Darstellung
des Wahnsinns ist daher unendlich schwer und kann nur den
größten Meistern gelingen, wie Shakespeare, Göthe,
G. Sand, unter den Malern Kaulbach in seinem Narren¬
hause u. s. w. Von der neueren Französischen Bühne, die mit
Disharmonieen sonst nicht sparsam ist, verdient ein Stück von
Scribe und Melesville: elle est folle! nicht nur deshalb
ausgezeichnet zu werden, weil es psychologisch höchst exact
ist, sondern auch, weil es den Wahnsinn wieder auflöst.
Ein Mann hat den Wahnsinn, seine Frau für wahnsinnig
zu halten; er selbst ist aber wahnsinnig, weil er Jemand
ins Meer gestoßen und getödtet zu haben wähnt. Unter¬
fängt ein Stümper sich der schweren Aufgabe, den Wahn¬
sinn zu schildern, so kommt das Scheußlichste des Albernen
zu Tage, das gewöhnlich mit seinen vielen Ausrufungs¬

Auffaſſung, die nichts als häßliche Producte zur Folge haben
konnte. Der Wahnſinnige hat das Vorrecht, Gedanken,
die ſonſt nur im philoſophiſchen Skepticismus nicht ruchlos
ſein würden, oder die als revolutionaire Manifeſte der ge¬
ängſteten Seele nur den Traum durchzucken dürfen, mit
ungezügelter Parrheſie zu äußern. Um aber ſchön zu ſein,
muß die Alles durch einander wühlende Raſerei einen äſthetiſch
individualiſirenden Mittelpunct haben, der den Drang der
excentriſchen Gedanken doch nicht ins abſolut Leere ver¬
ſchweben, vielmehr in ihn wieder gravitiren läßt. Der Dichter
muß dem Irren ein allgemein intereſſirendes Thema zu
ſeinen ins Abſurde ausſchweifenden Variationen geben. So
hat Gretchens Wahnſinn im Kerker ein ſolches Centrum an
dem Gedanken, wegen der Liebe zum Manne die zur Mutter
und zum Kinde verletzt zu haben; ſo Auguſtino im Meiſter
an der Vorſtellung des Fatalismus; Lear an der verletzten
Auctorität des Königs und Vaters u. ſ. w. Die Darſtellung
des Wahnſinns iſt daher unendlich ſchwer und kann nur den
größten Meiſtern gelingen, wie Shakeſpeare, Göthe,
G. Sand, unter den Malern Kaulbach in ſeinem Narren¬
hauſe u. ſ. w. Von der neueren Franzöſiſchen Bühne, die mit
Disharmonieen ſonſt nicht ſparſam iſt, verdient ein Stück von
Scribe und Melesville: elle est folle! nicht nur deshalb
ausgezeichnet zu werden, weil es pſychologiſch höchſt exact
iſt, ſondern auch, weil es den Wahnſinn wieder auflöſt.
Ein Mann hat den Wahnſinn, ſeine Frau für wahnſinnig
zu halten; er ſelbſt iſt aber wahnſinnig, weil er Jemand
ins Meer geſtoßen und getödtet zu haben wähnt. Unter¬
fängt ein Stümper ſich der ſchweren Aufgabe, den Wahn¬
ſinn zu ſchildern, ſo kommt das Scheußlichſte des Albernen
zu Tage, das gewöhnlich mit ſeinen vielen Ausrufungs¬

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[309/0331] Auffaſſung, die nichts als häßliche Producte zur Folge haben konnte. Der Wahnſinnige hat das Vorrecht, Gedanken, die ſonſt nur im philoſophiſchen Skepticismus nicht ruchlos ſein würden, oder die als revolutionaire Manifeſte der ge¬ ängſteten Seele nur den Traum durchzucken dürfen, mit ungezügelter Parrheſie zu äußern. Um aber ſchön zu ſein, muß die Alles durch einander wühlende Raſerei einen äſthetiſch individualiſirenden Mittelpunct haben, der den Drang der excentriſchen Gedanken doch nicht ins abſolut Leere ver¬ ſchweben, vielmehr in ihn wieder gravitiren läßt. Der Dichter muß dem Irren ein allgemein intereſſirendes Thema zu ſeinen ins Abſurde ausſchweifenden Variationen geben. So hat Gretchens Wahnſinn im Kerker ein ſolches Centrum an dem Gedanken, wegen der Liebe zum Manne die zur Mutter und zum Kinde verletzt zu haben; ſo Auguſtino im Meiſter an der Vorſtellung des Fatalismus; Lear an der verletzten Auctorität des Königs und Vaters u. ſ. w. Die Darſtellung des Wahnſinns iſt daher unendlich ſchwer und kann nur den größten Meiſtern gelingen, wie Shakeſpeare, Göthe, G. Sand, unter den Malern Kaulbach in ſeinem Narren¬ hauſe u. ſ. w. Von der neueren Franzöſiſchen Bühne, die mit Disharmonieen ſonſt nicht ſparſam iſt, verdient ein Stück von Scribe und Melesville: elle est folle! nicht nur deshalb ausgezeichnet zu werden, weil es pſychologiſch höchſt exact iſt, ſondern auch, weil es den Wahnſinn wieder auflöſt. Ein Mann hat den Wahnſinn, ſeine Frau für wahnſinnig zu halten; er ſelbſt iſt aber wahnſinnig, weil er Jemand ins Meer geſtoßen und getödtet zu haben wähnt. Unter¬ fängt ein Stümper ſich der ſchweren Aufgabe, den Wahn¬ ſinn zu ſchildern, ſo kommt das Scheußlichſte des Albernen zu Tage, das gewöhnlich mit ſeinen vielen Ausrufungs¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/331>, abgerufen am 29.04.2024.