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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Freiheit im Widerspruch mit ihrem negativen Inhalt läßt uns
hier, wie Christus vom ungerechten Haushalter, urtheilen,
daß sie an sich nachahmenswerth sein würde. Im dritten
Fall wird die Aufhebung des Häßlichen im Verbrechen da¬
durch bewirkt, daß die Reinheit, die Tugend, die Unschuld
ihm zum Opfer fällt. Die Häßlichkeit des Verbrechens er¬
scheint hier um so scheußlicher, je vergeblicher es die Freiheit
der Unschuld bestürmt. Die sieghafte Selbstgewißheit derselben
ist es, die uns, dem Verbrechen gegenüber, auch in ihrem
äußern Untergange frei aufathmen läßt. Die Tragödie
schließt für diesen Fall Manches von sich aus, was der
epischen Darstellung noch erlaubt ist, weil sie die ganze
Breite der Vermittelung in sich aufnehmen kann, wo das
Drama epitomatorisch und epigrammatisch zu Werke gehen
muß. Wir wollen auch dies an einem Beispiel verdeutlichen.
Shelley hat in seiner Cenci eine seltene Kunst bewiesen,
einen höchst widerwärtigen Stoff mit poetischem Hauch dar¬
zustellen, allein für das Drama ist derselbe doch ungeeignet.
Der alte Cenci, der Tyrann der Seinen, erfährt bei einem
Gastmahl den Tod zweier Söhne und dankt dafür dem
Himmel öffentlich. Alles entfernt sich in Entsetzen. Er
beschließt, seine Tochter Beatrice zu schänden, um sie an
Leib und Seele zu verderben. Beatrice und ihr Bruder
Giacomo, im Verein mit ihrer Stiefmutter Lucretia, lassen
ihn durch Banditen tödten. Der Mord wird entdeckt und
die Schuldigen werden hingerichtet. Dies ist in wenigen
Worten der Hauptinhalt jener bekannten gräßlichen Geschichte.
Dieser Stoff ist nicht für das Drama passend, nicht nur
wegen der Unnatur, weil der teuflische Vater die Tochter
schänden will, sondern auch, weil nur die Erzählung alle
die scheuseligen Nebenumstände darzulegen vermag, welche

Freiheit im Widerſpruch mit ihrem negativen Inhalt läßt uns
hier, wie Chriſtus vom ungerechten Haushalter, urtheilen,
daß ſie an ſich nachahmenswerth ſein würde. Im dritten
Fall wird die Aufhebung des Häßlichen im Verbrechen da¬
durch bewirkt, daß die Reinheit, die Tugend, die Unſchuld
ihm zum Opfer fällt. Die Häßlichkeit des Verbrechens er¬
ſcheint hier um ſo ſcheußlicher, je vergeblicher es die Freiheit
der Unſchuld beſtürmt. Die ſieghafte Selbſtgewißheit derſelben
iſt es, die uns, dem Verbrechen gegenüber, auch in ihrem
äußern Untergange frei aufathmen läßt. Die Tragödie
ſchließt für dieſen Fall Manches von ſich aus, was der
epiſchen Darſtellung noch erlaubt iſt, weil ſie die ganze
Breite der Vermittelung in ſich aufnehmen kann, wo das
Drama epitomatoriſch und epigrammatiſch zu Werke gehen
muß. Wir wollen auch dies an einem Beiſpiel verdeutlichen.
Shelley hat in ſeiner Cenci eine ſeltene Kunſt bewieſen,
einen höchſt widerwärtigen Stoff mit poetiſchem Hauch dar¬
zuſtellen, allein für das Drama iſt derſelbe doch ungeeignet.
Der alte Cenci, der Tyrann der Seinen, erfährt bei einem
Gaſtmahl den Tod zweier Söhne und dankt dafür dem
Himmel öffentlich. Alles entfernt ſich in Entſetzen. Er
beſchließt, ſeine Tochter Beatrice zu ſchänden, um ſie an
Leib und Seele zu verderben. Beatrice und ihr Bruder
Giacomo, im Verein mit ihrer Stiefmutter Lucretia, laſſen
ihn durch Banditen tödten. Der Mord wird entdeckt und
die Schuldigen werden hingerichtet. Dies iſt in wenigen
Worten der Hauptinhalt jener bekannten gräßlichen Geſchichte.
Dieſer Stoff iſt nicht für das Drama paſſend, nicht nur
wegen der Unnatur, weil der teufliſche Vater die Tochter
ſchänden will, ſondern auch, weil nur die Erzählung alle
die ſcheuſeligen Nebenumſtände darzulegen vermag, welche

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[331/0353] Freiheit im Widerſpruch mit ihrem negativen Inhalt läßt uns hier, wie Chriſtus vom ungerechten Haushalter, urtheilen, daß ſie an ſich nachahmenswerth ſein würde. Im dritten Fall wird die Aufhebung des Häßlichen im Verbrechen da¬ durch bewirkt, daß die Reinheit, die Tugend, die Unſchuld ihm zum Opfer fällt. Die Häßlichkeit des Verbrechens er¬ ſcheint hier um ſo ſcheußlicher, je vergeblicher es die Freiheit der Unſchuld beſtürmt. Die ſieghafte Selbſtgewißheit derſelben iſt es, die uns, dem Verbrechen gegenüber, auch in ihrem äußern Untergange frei aufathmen läßt. Die Tragödie ſchließt für dieſen Fall Manches von ſich aus, was der epiſchen Darſtellung noch erlaubt iſt, weil ſie die ganze Breite der Vermittelung in ſich aufnehmen kann, wo das Drama epitomatoriſch und epigrammatiſch zu Werke gehen muß. Wir wollen auch dies an einem Beiſpiel verdeutlichen. Shelley hat in ſeiner Cenci eine ſeltene Kunſt bewieſen, einen höchſt widerwärtigen Stoff mit poetiſchem Hauch dar¬ zuſtellen, allein für das Drama iſt derſelbe doch ungeeignet. Der alte Cenci, der Tyrann der Seinen, erfährt bei einem Gaſtmahl den Tod zweier Söhne und dankt dafür dem Himmel öffentlich. Alles entfernt ſich in Entſetzen. Er beſchließt, ſeine Tochter Beatrice zu ſchänden, um ſie an Leib und Seele zu verderben. Beatrice und ihr Bruder Giacomo, im Verein mit ihrer Stiefmutter Lucretia, laſſen ihn durch Banditen tödten. Der Mord wird entdeckt und die Schuldigen werden hingerichtet. Dies iſt in wenigen Worten der Hauptinhalt jener bekannten gräßlichen Geſchichte. Dieſer Stoff iſt nicht für das Drama paſſend, nicht nur wegen der Unnatur, weil der teufliſche Vater die Tochter ſchänden will, ſondern auch, weil nur die Erzählung alle die ſcheuſeligen Nebenumſtände darzulegen vermag, welche

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/353>, abgerufen am 27.04.2024.