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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Das Wohlgefallen am Häßlichen.

Daß das Häßliche solle ein Wohlgefallen erzeugen
können, scheint eben so widersinnig, als daß das Kranke oder
Böse ein solches hervorrufe. Und doch ist dies möglich, einmal
auf gesunde, einmal auf krankhafte Weise.

Auf gesunde Weise, wenn das Häßliche in der Totalität
eines Kunstwerks sich als eine relative Nothwendigkeit recht¬
fertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben
wird. Nicht das Häßliche als solches bewirkt dann unser
Wohlgefallen, sondern das Schöne, welches den Abfall von
sich, der auch zur Erscheinung kommt, überwindet. Hiervon
ist oben schon gehandelt.

Auf krankhafte Weise, wenn ein Zeitalter physisch und
moralisch verderbt ist, für die Erfassung des wahrhaften, aber
einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunst
das Pikante der frivolen Corruption genießen will. Ein solches
Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Wider¬
spruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven
aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste
zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich
an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer
negativen Zustände wird. Thierhetzen, Gladiatorspiele, lüsterne
Symplegmen, Caricaturen, sinnlich verweichlichende Melodien,
kolossale Instrumentirung, in der Literatur eine Poesie von
Koth und Blut (de boue et de sang, wie Marmier sagte),
sind solchen Perioden eigen.


Das Wohlgefallen am Häßlichen.

Daß das Häßliche ſolle ein Wohlgefallen erzeugen
können, ſcheint eben ſo widerſinnig, als daß das Kranke oder
Böſe ein ſolches hervorrufe. Und doch iſt dies möglich, einmal
auf geſunde, einmal auf krankhafte Weiſe.

Auf geſunde Weiſe, wenn das Häßliche in der Totalität
eines Kunſtwerks ſich als eine relative Nothwendigkeit recht¬
fertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben
wird. Nicht das Häßliche als ſolches bewirkt dann unſer
Wohlgefallen, ſondern das Schöne, welches den Abfall von
ſich, der auch zur Erſcheinung kommt, überwindet. Hiervon
iſt oben ſchon gehandelt.

Auf krankhafte Weiſe, wenn ein Zeitalter phyſiſch und
moraliſch verderbt iſt, für die Erfaſſung des wahrhaften, aber
einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunſt
das Pikante der frivolen Corruption genießen will. Ein ſolches
Zeitalter liebt die gemiſchten Empfindungen, die einen Wider¬
ſpruch zum Inhalt haben. Um die abgeſtumpften Nerven
aufzukitzeln, wird das Unerhörteſte, Disparateſte und Widrigſte
zuſammengebracht. Die Zerriſſenheit der Geiſter weidet ſich
an dem Häßlichen, weil es für ſie gleichſam das Ideal ihrer
negativen Zuſtände wird. Thierhetzen, Gladiatorſpiele, lüſterne
Symplegmen, Caricaturen, ſinnlich verweichlichende Melodien,
koloſſale Inſtrumentirung, in der Literatur eine Poeſie von
Koth und Blut (de boue et de sang, wie Marmier ſagte),
ſind ſolchen Perioden eigen.


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[52/0074] Das Wohlgefallen am Häßlichen. Daß das Häßliche ſolle ein Wohlgefallen erzeugen können, ſcheint eben ſo widerſinnig, als daß das Kranke oder Böſe ein ſolches hervorrufe. Und doch iſt dies möglich, einmal auf geſunde, einmal auf krankhafte Weiſe. Auf geſunde Weiſe, wenn das Häßliche in der Totalität eines Kunſtwerks ſich als eine relative Nothwendigkeit recht¬ fertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben wird. Nicht das Häßliche als ſolches bewirkt dann unſer Wohlgefallen, ſondern das Schöne, welches den Abfall von ſich, der auch zur Erſcheinung kommt, überwindet. Hiervon iſt oben ſchon gehandelt. Auf krankhafte Weiſe, wenn ein Zeitalter phyſiſch und moraliſch verderbt iſt, für die Erfaſſung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunſt das Pikante der frivolen Corruption genießen will. Ein ſolches Zeitalter liebt die gemiſchten Empfindungen, die einen Wider¬ ſpruch zum Inhalt haben. Um die abgeſtumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteſte, Disparateſte und Widrigſte zuſammengebracht. Die Zerriſſenheit der Geiſter weidet ſich an dem Häßlichen, weil es für ſie gleichſam das Ideal ihrer negativen Zuſtände wird. Thierhetzen, Gladiatorſpiele, lüſterne Symplegmen, Caricaturen, ſinnlich verweichlichende Melodien, koloſſale Inſtrumentirung, in der Literatur eine Poeſie von Koth und Blut (de boue et de sang, wie Marmier ſagte), ſind ſolchen Perioden eigen.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/74>, abgerufen am 29.03.2024.