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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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Man kann darüber verschiedener Meinung sein, ob man unter Keim
blos das aus dem Federchen und Würzelchen bestehende Gebilde, Fig. 3 fw,
ohne die beiden Samenlappen, oder jenes zusammen mit diesen
verstehen will. Gewöhnlich geschieht das Letztere, und demnach wäre das
ganze Samenkorn der Keim.

Wenn man der anderen Auffassung huldigt, so macht man dabei
geltend, daß unter Keim im eigentlichen Sinne doch blos verstanden
werden dürfe, was vom Samen als ein bleibender Theil in die er-
wachsende Pflanze übergeht: das Federchen, aus dem der Stamm wird,
und das Würzelchen, aus dem die Wurzel wird. Die beiden Samen-
lappen sterben in den meisten Fällen bald nach einiger Erstarkung des
Samenpflänzchens ab und verfaulen entweder im Boden -- wie bei der
Erbse und der Eichel -- oder, wenn sie -- wie bei den allermeisten
Pflanzen -- nach dem Keimen über den Boden emporgehoben werden,
sie vertrocknen und fallen ab. Demnach sind die Samenlappen nicht in
demselben Sinne wie das Federchen und das Würzelchen bleibende Theile
des Keimes.

Die Bedeutung der Samenlappen für das Leben des jungen Pflänz-
chens wird uns vielleicht bei der Lösung der Frage, ob wir sie zum
Keime rechnen sollen oder nicht, unterstützen.

Nicht alle Pflanzensamen haben so große Samenlappen wie z. B.
Bohne, Eichel, Mandel, Erbse und Linse, bei denen gegen sie Federchen
und Würzelchen an Masse fast verschwindend zurücktreten. Der süße und
ölige und stärkemehlreiche Inhalt, den wir in diesen Samen als Nahrung
genießen, ist ebenso die Nahrung für das Keimpflänzchen. Man kann
deshalb diese Samen in reinem ausgeglüheten Quarzsand und destillirtem
Wasser -- welches beides den Keimpflänzchen außer dem Wasser fast
keine Nahrung zu gewähren vermag -- keimen und bis zu einer gewissen
Grenze erwachsen lassen, indem sie die dazu nöthigen Nahrungsmittel aus
den Samenlappen beziehen. So lange dieser Vorrath reicht, bedürfen
die Keimpflänzchen aus dem Boden keine Nahrung. Demnach sind die
Samenlappen Vorrathsbehälter, welche die Mutterpflanze dem jungen
Pflänzchen im Samen für seine erste Jugendzeit mitgegeben hat, und
welche in den meisten Fällen abgeworfen werden, nachdem der Nahrungs-
vorrath aufgezehrt ist.

Man kann darüber verſchiedener Meinung ſein, ob man unter Keim
blos das aus dem Federchen und Würzelchen beſtehende Gebilde, Fig. 3 fw,
ohne die beiden Samenlappen, oder jenes zuſammen mit dieſen
verſtehen will. Gewöhnlich geſchieht das Letztere, und demnach wäre das
ganze Samenkorn der Keim.

Wenn man der anderen Auffaſſung huldigt, ſo macht man dabei
geltend, daß unter Keim im eigentlichen Sinne doch blos verſtanden
werden dürfe, was vom Samen als ein bleibender Theil in die er-
wachſende Pflanze übergeht: das Federchen, aus dem der Stamm wird,
und das Würzelchen, aus dem die Wurzel wird. Die beiden Samen-
lappen ſterben in den meiſten Fällen bald nach einiger Erſtarkung des
Samenpflänzchens ab und verfaulen entweder im Boden — wie bei der
Erbſe und der Eichel — oder, wenn ſie — wie bei den allermeiſten
Pflanzen — nach dem Keimen über den Boden emporgehoben werden,
ſie vertrocknen und fallen ab. Demnach ſind die Samenlappen nicht in
demſelben Sinne wie das Federchen und das Würzelchen bleibende Theile
des Keimes.

Die Bedeutung der Samenlappen für das Leben des jungen Pflänz-
chens wird uns vielleicht bei der Löſung der Frage, ob wir ſie zum
Keime rechnen ſollen oder nicht, unterſtützen.

Nicht alle Pflanzenſamen haben ſo große Samenlappen wie z. B.
Bohne, Eichel, Mandel, Erbſe und Linſe, bei denen gegen ſie Federchen
und Würzelchen an Maſſe faſt verſchwindend zurücktreten. Der ſüße und
ölige und ſtärkemehlreiche Inhalt, den wir in dieſen Samen als Nahrung
genießen, iſt ebenſo die Nahrung für das Keimpflänzchen. Man kann
deshalb dieſe Samen in reinem ausgeglüheten Quarzſand und deſtillirtem
Waſſer — welches beides den Keimpflänzchen außer dem Waſſer faſt
keine Nahrung zu gewähren vermag — keimen und bis zu einer gewiſſen
Grenze erwachſen laſſen, indem ſie die dazu nöthigen Nahrungsmittel aus
den Samenlappen beziehen. So lange dieſer Vorrath reicht, bedürfen
die Keimpflänzchen aus dem Boden keine Nahrung. Demnach ſind die
Samenlappen Vorrathsbehälter, welche die Mutterpflanze dem jungen
Pflänzchen im Samen für ſeine erſte Jugendzeit mitgegeben hat, und
welche in den meiſten Fällen abgeworfen werden, nachdem der Nahrungs-
vorrath aufgezehrt iſt.

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[136/0160] Man kann darüber verſchiedener Meinung ſein, ob man unter Keim blos das aus dem Federchen und Würzelchen beſtehende Gebilde, Fig. 3 fw, ohne die beiden Samenlappen, oder jenes zuſammen mit dieſen verſtehen will. Gewöhnlich geſchieht das Letztere, und demnach wäre das ganze Samenkorn der Keim. Wenn man der anderen Auffaſſung huldigt, ſo macht man dabei geltend, daß unter Keim im eigentlichen Sinne doch blos verſtanden werden dürfe, was vom Samen als ein bleibender Theil in die er- wachſende Pflanze übergeht: das Federchen, aus dem der Stamm wird, und das Würzelchen, aus dem die Wurzel wird. Die beiden Samen- lappen ſterben in den meiſten Fällen bald nach einiger Erſtarkung des Samenpflänzchens ab und verfaulen entweder im Boden — wie bei der Erbſe und der Eichel — oder, wenn ſie — wie bei den allermeiſten Pflanzen — nach dem Keimen über den Boden emporgehoben werden, ſie vertrocknen und fallen ab. Demnach ſind die Samenlappen nicht in demſelben Sinne wie das Federchen und das Würzelchen bleibende Theile des Keimes. Die Bedeutung der Samenlappen für das Leben des jungen Pflänz- chens wird uns vielleicht bei der Löſung der Frage, ob wir ſie zum Keime rechnen ſollen oder nicht, unterſtützen. Nicht alle Pflanzenſamen haben ſo große Samenlappen wie z. B. Bohne, Eichel, Mandel, Erbſe und Linſe, bei denen gegen ſie Federchen und Würzelchen an Maſſe faſt verſchwindend zurücktreten. Der ſüße und ölige und ſtärkemehlreiche Inhalt, den wir in dieſen Samen als Nahrung genießen, iſt ebenſo die Nahrung für das Keimpflänzchen. Man kann deshalb dieſe Samen in reinem ausgeglüheten Quarzſand und deſtillirtem Waſſer — welches beides den Keimpflänzchen außer dem Waſſer faſt keine Nahrung zu gewähren vermag — keimen und bis zu einer gewiſſen Grenze erwachſen laſſen, indem ſie die dazu nöthigen Nahrungsmittel aus den Samenlappen beziehen. So lange dieſer Vorrath reicht, bedürfen die Keimpflänzchen aus dem Boden keine Nahrung. Demnach ſind die Samenlappen Vorrathsbehälter, welche die Mutterpflanze dem jungen Pflänzchen im Samen für ſeine erſte Jugendzeit mitgegeben hat, und welche in den meiſten Fällen abgeworfen werden, nachdem der Nahrungs- vorrath aufgezehrt iſt.

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/160>, abgerufen am 12.05.2024.