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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Tante: Seraphine das haben! -- Gehe, lauf,
hol es dir. Bald läuft mein Dückchen und holt
es. So spiele ich sie wieder ins Leben hinein.
So wie ihr das Gesundheitsgefühl wiederkommt,
erwacht auch nach und nach die ganze liebevolle
Lieblichkeit des Kindes wieder. Krankheiten ma-
chen sehr egoistisch, auch kleine Kinder. Jst der
Egoismus nur eine herbe Frucht des Krankseyns,
so hört er mit ihr wieder auf, wenigstens bei recht
schönen Gemüthern gewiß. Jst in den Kindern
von früh an dieser alte Mensch, anstatt gekreu-
zigt zu werden, fein sanft und weich gehalten,
und dadurch mächtig worden, so wächs't er in
Krankheiten zu einem mächtigen Riesen auf, der
nicht mehr zu bändigen ist. Du kennst Deine
Freundin, und weißt, daß Härte eben kein star-
kes Jngredienz ihrer Natur ist; aber recht kalt
kann mir's werden, wenn ich diesem erbärmlichen
Egoismus in großen und kleinen Kindern begegne,
der sich und seine krankhaften Gefühle zum Mit-
telpunkte macht, um den sich alles übrige gehor-
chend und dienend bewegen soll. Auch um dieses
feigen Despotismus willen, der in kränkelnden



Tante: Seraphine das haben! — Gehe, lauf,
hol es dir. Bald läuft mein Dückchen und holt
es. So ſpiele ich ſie wieder ins Leben hinein.
So wie ihr das Geſundheitsgefühl wiederkommt,
erwacht auch nach und nach die ganze liebevolle
Lieblichkeit des Kindes wieder. Krankheiten ma-
chen ſehr egoiſtiſch, auch kleine Kinder. Jſt der
Egoismus nur eine herbe Frucht des Krankſeyns,
ſo hört er mit ihr wieder auf, wenigſtens bei recht
ſchönen Gemüthern gewiß. Jſt in den Kindern
von früh an dieſer alte Menſch, anſtatt gekreu-
zigt zu werden, fein ſanft und weich gehalten,
und dadurch mächtig worden, ſo wächſ’t er in
Krankheiten zu einem mächtigen Rieſen auf, der
nicht mehr zu bändigen iſt. Du kennſt Deine
Freundin, und weißt, daß Härte eben kein ſtar-
kes Jngredienz ihrer Natur iſt; aber recht kalt
kann mir’s werden, wenn ich dieſem erbärmlichen
Egoismus in großen und kleinen Kindern begegne,
der ſich und ſeine krankhaften Gefühle zum Mit-
telpunkte macht, um den ſich alles übrige gehor-
chend und dienend bewegen ſoll. Auch um dieſes
feigen Despotismus willen, der in kränkelnden

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[237/0245] Tante: Seraphine das haben! — Gehe, lauf, hol es dir. Bald läuft mein Dückchen und holt es. So ſpiele ich ſie wieder ins Leben hinein. So wie ihr das Geſundheitsgefühl wiederkommt, erwacht auch nach und nach die ganze liebevolle Lieblichkeit des Kindes wieder. Krankheiten ma- chen ſehr egoiſtiſch, auch kleine Kinder. Jſt der Egoismus nur eine herbe Frucht des Krankſeyns, ſo hört er mit ihr wieder auf, wenigſtens bei recht ſchönen Gemüthern gewiß. Jſt in den Kindern von früh an dieſer alte Menſch, anſtatt gekreu- zigt zu werden, fein ſanft und weich gehalten, und dadurch mächtig worden, ſo wächſ’t er in Krankheiten zu einem mächtigen Rieſen auf, der nicht mehr zu bändigen iſt. Du kennſt Deine Freundin, und weißt, daß Härte eben kein ſtar- kes Jngredienz ihrer Natur iſt; aber recht kalt kann mir’s werden, wenn ich dieſem erbärmlichen Egoismus in großen und kleinen Kindern begegne, der ſich und ſeine krankhaften Gefühle zum Mit- telpunkte macht, um den ſich alles übrige gehor- chend und dienend bewegen ſoll. Auch um dieſes feigen Despotismus willen, der in kränkelnden

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/245>, abgerufen am 30.04.2024.