Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

hung zur Grundlage dienen muß, das zuerst ge-
rade darauf abzwecken muß, dem jungen Men-
fchenwesen in der Entwickelung seiner Menschen-
natur kräftig zu Hülfe zu kommen, das ferner
dahin zielen muß, den weiblichen Sinn im Mäd-
chen, die männliche Kraft im Knaben in ihrer
Fülle hervorgehen zu lassen. Jhre Hauptsorge
muß sodann seyn, daß sich des Kindes individuelle
Natur nach allen ihren Eigenthümlichkeiten frei,
leicht und kräftig entfalte. Es darf im Mädchen
der herrische Mannssinn nicht aufkommen, wenn
es auch Anlage dazu hätte. Sein Wesen soll sich zu
weiser Biegsamkeit formen. Das ist bei stark aus-
geprägten Naturen eine schwere Aufgabe der Erzie-
hung, und gelingt nur, wenn man früh genug
daran arbeitet. Nicht minder schwer ist die, die
Kraft einer allzuweichen überzarten Natur zu erhö-
hen. Da gibt es der Mißgriffe ohne Zahl. Nicht
selten wird durch Mißverstand des Erziehers der
Eigensinn auf die Schwäche gepfropft, wo man
Selbstständigkeit zu impfen gedachte; oder es
wird auch aus übergroßer Freude an der Zartheit
eine völlig willenlose Schwäche in der zarteren

hung zur Grundlage dienen muß, das zuerſt ge-
rade darauf abzwecken muß, dem jungen Men-
fchenweſen in der Entwickelung ſeiner Menſchen-
natur kräftig zu Hülfe zu kommen, das ferner
dahin zielen muß, den weiblichen Sinn im Mäd-
chen, die männliche Kraft im Knaben in ihrer
Fülle hervorgehen zu laſſen. Jhre Hauptſorge
muß ſodann ſeyn, daß ſich des Kindes individuelle
Natur nach allen ihren Eigenthümlichkeiten frei,
leicht und kräftig entfalte. Es darf im Mädchen
der herriſche Mannsſinn nicht aufkommen, wenn
es auch Anlage dazu hätte. Sein Weſen ſoll ſich zu
weiſer Biegſamkeit formen. Das iſt bei ſtark aus-
geprägten Naturen eine ſchwere Aufgabe der Erzie-
hung, und gelingt nur, wenn man früh genug
daran arbeitet. Nicht minder ſchwer iſt die, die
Kraft einer allzuweichen überzarten Natur zu erhö-
hen. Da gibt es der Mißgriffe ohne Zahl. Nicht
ſelten wird durch Mißverſtand des Erziehers der
Eigenſinn auf die Schwäche gepfropft, wo man
Selbſtſtändigkeit zu impfen gedachte; oder es
wird auch aus übergroßer Freude an der Zartheit
eine völlig willenloſe Schwäche in der zarteren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0064" n="56"/>
hung zur Grundlage dienen muß, das zuer&#x017F;t ge-<lb/>
rade darauf abzwecken muß, dem jungen Men-<lb/>
fchenwe&#x017F;en in der Entwickelung &#x017F;einer Men&#x017F;chen-<lb/>
natur kräftig zu Hülfe zu kommen, das ferner<lb/>
dahin zielen muß, den weiblichen Sinn im Mäd-<lb/>
chen, die männliche Kraft im Knaben in ihrer<lb/>
Fülle hervorgehen zu la&#x017F;&#x017F;en. Jhre Haupt&#x017F;orge<lb/>
muß &#x017F;odann &#x017F;eyn, daß &#x017F;ich des Kindes individuelle<lb/>
Natur nach allen ihren Eigenthümlichkeiten frei,<lb/>
leicht und kräftig entfalte. Es darf im Mädchen<lb/>
der herri&#x017F;che Manns&#x017F;inn nicht aufkommen, wenn<lb/>
es auch Anlage dazu hätte. Sein We&#x017F;en &#x017F;oll &#x017F;ich zu<lb/>
wei&#x017F;er Bieg&#x017F;amkeit formen. Das i&#x017F;t bei &#x017F;tark aus-<lb/>
geprägten Naturen eine &#x017F;chwere Aufgabe der Erzie-<lb/>
hung, und gelingt nur, wenn man früh genug<lb/>
daran arbeitet. Nicht minder &#x017F;chwer i&#x017F;t die, die<lb/>
Kraft einer allzuweichen überzarten Natur zu erhö-<lb/>
hen. Da gibt es der Mißgriffe ohne Zahl. Nicht<lb/>
&#x017F;elten wird durch Mißver&#x017F;tand des Erziehers der<lb/>
Eigen&#x017F;inn auf die Schwäche gepfropft, wo man<lb/>
Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeit zu impfen gedachte; oder es<lb/>
wird auch aus übergroßer Freude an der Zartheit<lb/>
eine völlig willenlo&#x017F;e Schwäche in der zarteren<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0064] hung zur Grundlage dienen muß, das zuerſt ge- rade darauf abzwecken muß, dem jungen Men- fchenweſen in der Entwickelung ſeiner Menſchen- natur kräftig zu Hülfe zu kommen, das ferner dahin zielen muß, den weiblichen Sinn im Mäd- chen, die männliche Kraft im Knaben in ihrer Fülle hervorgehen zu laſſen. Jhre Hauptſorge muß ſodann ſeyn, daß ſich des Kindes individuelle Natur nach allen ihren Eigenthümlichkeiten frei, leicht und kräftig entfalte. Es darf im Mädchen der herriſche Mannsſinn nicht aufkommen, wenn es auch Anlage dazu hätte. Sein Weſen ſoll ſich zu weiſer Biegſamkeit formen. Das iſt bei ſtark aus- geprägten Naturen eine ſchwere Aufgabe der Erzie- hung, und gelingt nur, wenn man früh genug daran arbeitet. Nicht minder ſchwer iſt die, die Kraft einer allzuweichen überzarten Natur zu erhö- hen. Da gibt es der Mißgriffe ohne Zahl. Nicht ſelten wird durch Mißverſtand des Erziehers der Eigenſinn auf die Schwäche gepfropft, wo man Selbſtſtändigkeit zu impfen gedachte; oder es wird auch aus übergroßer Freude an der Zartheit eine völlig willenloſe Schwäche in der zarteren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/64
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/64>, abgerufen am 27.04.2024.