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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Wie die erste Reise den Woldemar gebildet,
habe ich Dir schon einmal gesagt: oft kömmt er
mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von
Platov. -- Jda sagte neulich: Tante, wie ist es,
daß ich den Bruder jetzt so anders liebe, als ehe-
mals? besonders seit er krank war? Er kommt
mir jetzt noch viel verständiger vor, als sonst; und
ich denke, er allein müßte mich beschützen können,
wenn ich in Gefahr wäre. -- Das würde er auch
können, Jda; er hat viel Muth, viel Entschlos-
senheit, und das ist es, was du in ihm so sehr
achtest. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu
ihm eine so andere Gestalt gegeben. Dies Zu-
trauen und diese Achtung müssen noch immer wach-
sen, so wie Woldemar an Kraft und Muth zu-
nimmt. -- Jn dem Bruder hat die Natur uns
Frauen den Stellvertreter des Vaters angewiesen.
Und wenn der Bruder ganz das ist, was dein
Woldemar täglich mehr und mehr wird: so ent-
steht in dem Schwesterherzen ganz von selbst ein
Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli-
chen Folgsamkeit, die ein großherziger Mann nicht
als einen schuldigen Tribut fodert, sondern als

Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet,
habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er
mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von
Platov. — Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es,
daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe-
mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt
mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und
ich denke, er allein müßte mich beſchützen können,
wenn ich in Gefahr wäre. — Das würde er auch
können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ-
ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr
achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu
ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu-
trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach-
ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu-
nimmt. — Jn dem Bruder hat die Natur uns
Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen.
Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein
Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent-
ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein
Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli-
chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht
als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als

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[62/0070] Wie die erſte Reiſe den Woldemar gebildet, habe ich Dir ſchon einmal geſagt: oft kömmt er mir jetzt vor, wie ein jüngerer Freund des Herrn von Platov. — Jda ſagte neulich: Tante, wie iſt es, daß ich den Bruder jetzt ſo anders liebe, als ehe- mals? beſonders ſeit er krank war? Er kommt mir jetzt noch viel verſtändiger vor, als ſonſt; und ich denke, er allein müßte mich beſchützen können, wenn ich in Gefahr wäre. — Das würde er auch können, Jda; er hat viel Muth, viel Entſchloſ- ſenheit, und das iſt es, was du in ihm ſo ſehr achteſt. Und dies Zutrauen hat deiner Liebe zu ihm eine ſo andere Geſtalt gegeben. Dies Zu- trauen und dieſe Achtung müſſen noch immer wach- ſen, ſo wie Woldemar an Kraft und Muth zu- nimmt. — Jn dem Bruder hat die Natur uns Frauen den Stellvertreter des Vaters angewieſen. Und wenn der Bruder ganz das iſt, was dein Woldemar täglich mehr und mehr wird: ſo ent- ſteht in dem Schweſterherzen ganz von ſelbſt ein Grad des hingebenden Vertrauens, ja der kindli- chen Folgſamkeit, die ein großherziger Mann nicht als einen ſchuldigen Tribut fodert, ſondern als

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/70>, abgerufen am 27.04.2024.