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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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len, daß es ihnen genüge, dazu brauchen sie Zeit.
Von Hamburg, wo sie einige Wochen bleiben,
erhalten wir bestimmte Nachricht über ihren fer-
neren Reiseplan. Deine hiesigen Kinder entblü-
hen immer schöner an Geist und Körper. Jetzt
wetteifern Jda und Mathilde in der Sorge für
Küche und Haushalt, worm Clärchen, die diese
Geschäfte früher geübt, ihre Meisterin ist. Und
während ich die Drei zu diesen Küchenstudien von
mir entlasse, kommt Betty schmeichelnd zu mir,
und bittet, ihr doch ein Stündchen zu schenken.
Dann lesen und plaudern wir miteinander, und
sie vergißt der Stunde der Rückkehr fast immer.

Betty hat einen reinen klaren Verstand, eine
stille Seele und ein recht tiefes Gemüth, aber
einen überwiegenden Hang zum Ernste, ja zur
Schwermuth. Man hat ihr Schiller's Gedichte
geschenkt, sie liebt sie, aber es quält sie, daß sie
den Dichter nicht ganz verstehen kann, dessen
schwermüthige Ansicht des Lebens ihr so sehr zu-
sagt. Da kommt sie denn oft mit ihrem Schiller
und fodert Aufschluß über den verborgenen Sinn

len, daß es ihnen genüge, dazu brauchen ſie Zeit.
Von Hamburg, wo ſie einige Wochen bleiben,
erhalten wir beſtimmte Nachricht über ihren fer-
neren Reiſeplan. Deine hieſigen Kinder entblü-
hen immer ſchöner an Geiſt und Körper. Jetzt
wetteifern Jda und Mathilde in der Sorge für
Küche und Haushalt, worm Clärchen, die dieſe
Geſchäfte früher geübt, ihre Meiſterin iſt. Und
während ich die Drei zu dieſen Küchenſtudien von
mir entlaſſe, kommt Betty ſchmeichelnd zu mir,
und bittet, ihr doch ein Stündchen zu ſchenken.
Dann leſen und plaudern wir miteinander, und
ſie vergißt der Stunde der Rückkehr faſt immer.

Betty hat einen reinen klaren Verſtand, eine
ſtille Seele und ein recht tiefes Gemüth, aber
einen überwiegenden Hang zum Ernſte, ja zur
Schwermuth. Man hat ihr Schiller’s Gedichte
geſchenkt, ſie liebt ſie, aber es quält ſie, daß ſie
den Dichter nicht ganz verſtehen kann, deſſen
ſchwermüthige Anſicht des Lebens ihr ſo ſehr zu-
ſagt. Da kommt ſie denn oft mit ihrem Schiller
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[77/0085] len, daß es ihnen genüge, dazu brauchen ſie Zeit. Von Hamburg, wo ſie einige Wochen bleiben, erhalten wir beſtimmte Nachricht über ihren fer- neren Reiſeplan. Deine hieſigen Kinder entblü- hen immer ſchöner an Geiſt und Körper. Jetzt wetteifern Jda und Mathilde in der Sorge für Küche und Haushalt, worm Clärchen, die dieſe Geſchäfte früher geübt, ihre Meiſterin iſt. Und während ich die Drei zu dieſen Küchenſtudien von mir entlaſſe, kommt Betty ſchmeichelnd zu mir, und bittet, ihr doch ein Stündchen zu ſchenken. Dann leſen und plaudern wir miteinander, und ſie vergißt der Stunde der Rückkehr faſt immer. Betty hat einen reinen klaren Verſtand, eine ſtille Seele und ein recht tiefes Gemüth, aber einen überwiegenden Hang zum Ernſte, ja zur Schwermuth. Man hat ihr Schiller’s Gedichte geſchenkt, ſie liebt ſie, aber es quält ſie, daß ſie den Dichter nicht ganz verſtehen kann, deſſen ſchwermüthige Anſicht des Lebens ihr ſo ſehr zu- ſagt. Da kommt ſie denn oft mit ihrem Schiller und fodert Aufſchluß über den verborgenen Sinn

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/85>, abgerufen am 27.04.2024.