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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Zellenlehre, Entwicklungsgeschichte und Kryptogamenkunde.
sondern um die Erkenntniß eines entwicklungsgeschichtlichen Zu-
sammenhangs, der das Allerverschiedenste, die einfachsten Moose
mit den Palmen, Coniferen und Laubhölzern eng verknüpft er-
scheinen ließ. Mit der Annahme, daß jede natürliche Gruppe
des Pflanzenreichs eine "Idee" repräsentire, war hier nichts
mehr zu machen, die Vorstellung von dem, was das natürliche
System zu bedeuten habe, mußte sich gänzlich ändern; ebenso
wenig, wie ein bloßes Fachwerk von Begriffen, konnte es als
eine Gesammtheit platonischer Ideen gelten. Aber auch in
methodologischer Hinsicht war das Resultat der "vergleichenden
Untersuchungen" durchschlagend; für die Morphologie standen
jetzt die Kryptogamen im Vordergrund; die Muscineen waren
das Maaß, mit dem die niederen Kryptogamen, die Farne das
Maaß, mit dem die Phanerogamen gemessen werden mußten.
Die Embryologie war der Faden, der in das Labyrinth der ver-
gleichenden und genetischen Morphologie führte; die Metamorphose
gewann jetzt ihren einzig richtigen Sinn, indem sich jedes Organ
auf seine Stammform, die Staub- und Fruchtblätter der Phane-
rogamen, z. B. auf die sporentragenden Blätter der Gefäßkrypto-
gamen, zurückführen ließen. Was Häckel erst nach Darwin's
Auftreten die phylogenetische Methode nannte, hatte Hofmeister
in seinen vergleichenden Untersuchungen lange vorher thatsächlich
und mit großartigstem Erfolge wirklich durchgeführt. Als acht
Jahre nach Hofmeister's vergleichenden Untersuchungen Dar-
win's Descendenzlehre erschien, lagen die verwandtschaftlichen
Beziehungen der großen Abtheilungen des Pflanzenreiches so
offen, so tief begründet und so durchsichtig klar vor Augen, daß
die Descendenztheorie eben nur anzuerkennen brauchte, was hier
die genetische Morphologie thatsächlich zur Anschauung ge-
bracht hatte.

Ein so großartiges Bild, wie es Hofmeister von dem
genetischen Zusammenhang des Pflanzenreiches einstweilen noch
mit Ausschluß der Thallophyten, entworfen hatte, konnte aber
unmöglich in allen seinen einzelnen Zügen schon völlig vollendet
und correct sein; noch waren manche Lücken auszufüllen, einzelne

Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde.
ſondern um die Erkenntniß eines entwicklungsgeſchichtlichen Zu-
ſammenhangs, der das Allerverſchiedenſte, die einfachſten Mooſe
mit den Palmen, Coniferen und Laubhölzern eng verknüpft er-
ſcheinen ließ. Mit der Annahme, daß jede natürliche Gruppe
des Pflanzenreichs eine „Idee“ repräſentire, war hier nichts
mehr zu machen, die Vorſtellung von dem, was das natürliche
Syſtem zu bedeuten habe, mußte ſich gänzlich ändern; ebenſo
wenig, wie ein bloßes Fachwerk von Begriffen, konnte es als
eine Geſammtheit platoniſcher Ideen gelten. Aber auch in
methodologiſcher Hinſicht war das Reſultat der „vergleichenden
Unterſuchungen“ durchſchlagend; für die Morphologie ſtanden
jetzt die Kryptogamen im Vordergrund; die Muscineen waren
das Maaß, mit dem die niederen Kryptogamen, die Farne das
Maaß, mit dem die Phanerogamen gemeſſen werden mußten.
Die Embryologie war der Faden, der in das Labyrinth der ver-
gleichenden und genetiſchen Morphologie führte; die Metamorphoſe
gewann jetzt ihren einzig richtigen Sinn, indem ſich jedes Organ
auf ſeine Stammform, die Staub- und Fruchtblätter der Phane-
rogamen, z. B. auf die ſporentragenden Blätter der Gefäßkrypto-
gamen, zurückführen ließen. Was Häckel erſt nach Darwin's
Auftreten die phylogenetiſche Methode nannte, hatte Hofmeiſter
in ſeinen vergleichenden Unterſuchungen lange vorher thatſächlich
und mit großartigſtem Erfolge wirklich durchgeführt. Als acht
Jahre nach Hofmeiſter's vergleichenden Unterſuchungen Dar-
win's Descendenzlehre erſchien, lagen die verwandtſchaftlichen
Beziehungen der großen Abtheilungen des Pflanzenreiches ſo
offen, ſo tief begründet und ſo durchſichtig klar vor Augen, daß
die Descendenztheorie eben nur anzuerkennen brauchte, was hier
die genetiſche Morphologie thatſächlich zur Anſchauung ge-
bracht hatte.

Ein ſo großartiges Bild, wie es Hofmeiſter von dem
genetiſchen Zuſammenhang des Pflanzenreiches einſtweilen noch
mit Ausſchluß der Thallophyten, entworfen hatte, konnte aber
unmöglich in allen ſeinen einzelnen Zügen ſchon völlig vollendet
und correct ſein; noch waren manche Lücken auszufüllen, einzelne

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[217/0229] Zellenlehre, Entwicklungsgeſchichte und Kryptogamenkunde. ſondern um die Erkenntniß eines entwicklungsgeſchichtlichen Zu- ſammenhangs, der das Allerverſchiedenſte, die einfachſten Mooſe mit den Palmen, Coniferen und Laubhölzern eng verknüpft er- ſcheinen ließ. Mit der Annahme, daß jede natürliche Gruppe des Pflanzenreichs eine „Idee“ repräſentire, war hier nichts mehr zu machen, die Vorſtellung von dem, was das natürliche Syſtem zu bedeuten habe, mußte ſich gänzlich ändern; ebenſo wenig, wie ein bloßes Fachwerk von Begriffen, konnte es als eine Geſammtheit platoniſcher Ideen gelten. Aber auch in methodologiſcher Hinſicht war das Reſultat der „vergleichenden Unterſuchungen“ durchſchlagend; für die Morphologie ſtanden jetzt die Kryptogamen im Vordergrund; die Muscineen waren das Maaß, mit dem die niederen Kryptogamen, die Farne das Maaß, mit dem die Phanerogamen gemeſſen werden mußten. Die Embryologie war der Faden, der in das Labyrinth der ver- gleichenden und genetiſchen Morphologie führte; die Metamorphoſe gewann jetzt ihren einzig richtigen Sinn, indem ſich jedes Organ auf ſeine Stammform, die Staub- und Fruchtblätter der Phane- rogamen, z. B. auf die ſporentragenden Blätter der Gefäßkrypto- gamen, zurückführen ließen. Was Häckel erſt nach Darwin's Auftreten die phylogenetiſche Methode nannte, hatte Hofmeiſter in ſeinen vergleichenden Unterſuchungen lange vorher thatſächlich und mit großartigſtem Erfolge wirklich durchgeführt. Als acht Jahre nach Hofmeiſter's vergleichenden Unterſuchungen Dar- win's Descendenzlehre erſchien, lagen die verwandtſchaftlichen Beziehungen der großen Abtheilungen des Pflanzenreiches ſo offen, ſo tief begründet und ſo durchſichtig klar vor Augen, daß die Descendenztheorie eben nur anzuerkennen brauchte, was hier die genetiſche Morphologie thatſächlich zur Anſchauung ge- bracht hatte. Ein ſo großartiges Bild, wie es Hofmeiſter von dem genetiſchen Zuſammenhang des Pflanzenreiches einſtweilen noch mit Ausſchluß der Thallophyten, entworfen hatte, konnte aber unmöglich in allen ſeinen einzelnen Zügen ſchon völlig vollendet und correct ſein; noch waren manche Lücken auszufüllen, einzelne

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/229>, abgerufen am 27.04.2024.