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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785.

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Scheingründe für den Selbstmord.
transspiriret haben: soll es nicht Thorheit
seyn, den undurchdringlichen Schleyer, der
auf den Zahllosen Begebenheiten der Zukunft
liegt, mit der Fingerspitze wegheben wollen,
und sagen:
für mich blüht keine Freude mehr.

"Ich darf keine Freude mehr hoffen."
Sieh, wie du deine gegenwärtige Empfin-
dung, in der alle deine Sinne, Vernunft
und Herz schwimmen, zum Maaßstabe dei-
nes Urtheils über die Zukunft machst: und
gerade dieser Maaßstab ist der unzuverlässig-
ste aus allen. Wenn der Wetterfürchten-
de Knabe (um das im Eingange angeführte
mendelsohn'sche Gleichniß auszumalen) glaub-
te, der Donner, der itzt in dem Momente des
fürchterlichen Krachens über seinem Haupte
rollet, werde ewig, ewig in seinem Ohr rau-
schen: was würdest du ihm sagen?

"Lieber Knabe, würdest du ihm sagen,
die Donner brüllen nicht immer, nicht im-
mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil-
le ist schon auf dem Wege -- für dein Aug'

und
F 3

Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord.
transſpiriret haben: ſoll es nicht Thorheit
ſeyn, den undurchdringlichen Schleyer, der
auf den Zahlloſen Begebenheiten der Zukunft
liegt, mit der Fingerſpitze wegheben wollen,
und ſagen:
fuͤr mich bluͤht keine Freude mehr.

„Ich darf keine Freude mehr hoffen.“
Sieh, wie du deine gegenwaͤrtige Empfin-
dung, in der alle deine Sinne, Vernunft
und Herz ſchwimmen, zum Maaßſtabe dei-
nes Urtheils uͤber die Zukunft machſt: und
gerade dieſer Maaßſtab iſt der unzuverlaͤſſig-
ſte aus allen. Wenn der Wetterfuͤrchten-
de Knabe (um das im Eingange angefuͤhrte
mendelſohn’ſche Gleichniß auszumalen) glaub-
te, der Donner, der itzt in dem Momente des
fuͤrchterlichen Krachens uͤber ſeinem Haupte
rollet, werde ewig, ewig in ſeinem Ohr rau-
ſchen: was wuͤrdeſt du ihm ſagen?

„Lieber Knabe, wuͤrdeſt du ihm ſagen,
die Donner bruͤllen nicht immer, nicht im-
mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil-
le iſt ſchon auf dem Wege — fuͤr dein Aug’

und
F 3
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[85/0097] Scheingruͤnde fuͤr den Selbſtmord. transſpiriret haben: ſoll es nicht Thorheit ſeyn, den undurchdringlichen Schleyer, der auf den Zahlloſen Begebenheiten der Zukunft liegt, mit der Fingerſpitze wegheben wollen, und ſagen: fuͤr mich bluͤht keine Freude mehr. „Ich darf keine Freude mehr hoffen.“ Sieh, wie du deine gegenwaͤrtige Empfin- dung, in der alle deine Sinne, Vernunft und Herz ſchwimmen, zum Maaßſtabe dei- nes Urtheils uͤber die Zukunft machſt: und gerade dieſer Maaßſtab iſt der unzuverlaͤſſig- ſte aus allen. Wenn der Wetterfuͤrchten- de Knabe (um das im Eingange angefuͤhrte mendelſohn’ſche Gleichniß auszumalen) glaub- te, der Donner, der itzt in dem Momente des fuͤrchterlichen Krachens uͤber ſeinem Haupte rollet, werde ewig, ewig in ſeinem Ohr rau- ſchen: was wuͤrdeſt du ihm ſagen? „Lieber Knabe, wuͤrdeſt du ihm ſagen, die Donner bruͤllen nicht immer, nicht im- mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil- le iſt ſchon auf dem Wege — fuͤr dein Aug’ und F 3

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/97>, abgerufen am 28.04.2024.