Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

ches Stück besser geweiht werden können, als der unglück-
lichen Liebe? Man sieht, man fühlt, man wünscht mehr,
wenn man nur das Bild sieht, als wenn man den gan-
zen Siegwart liest. -- Ist etwas, das in grossen
Städten der Erziehung vortheilhaft ist, so ist's gewis der
Anblick so vieler und mannichfaltiger Werke der Kunst,
die den Geschmack besser schärfen als Regeln; so ge-
fährlich freilich auch auf der andern Seite diese Plätze
jungen, unverschlossenen, Seelen werden können. Denn
neben einer Kreuzigung hängt eine nackte Danae, oder
eine badende Susanne, oder eine Venus, unter den
Händen der Grazien, wo die Nachahmung der Natur,
der Reitz, die Feinheit, und die Verschönerung der Phan-
tasie, kurz alles zusammen fließt, das Laster angenehm
zu machen.

Le Cabinet de l'Histoire Naturelle du Roi,
besuchte ich heute zum erstenmahl. So steht mit goldnen
Buchstaben über der einen Thüre. Das, was man den
Fremden zeigt, ist in 4 grossen hohen Zimmern an den
Wänden überall herum, und zum Theil auch oben an der
Decke angebracht. Alles ist in wohlverschlossenen
Schränken mit vielen Schubladen und Fächern, Glas-
thüren, und französischen Zetteln. Viel Ordnung ist
nicht in der Anordnung, es scheint, es fehlt am Platz,
oder man hat's noch nicht weiter aus einander bringen
wollen. Vieles steht im Schatten, vieles zu niedrig,
vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der
Hand nicht sehen. Wenns aufgemacht wird, welches
alle Woche zweimahl geschieht, so fährt und geht immer
eine Menge Menschen von allen Geschlechtern, Stand
und Alter hinein. Es ist ein Getümmel, wie aufm

Markt.

ches Stuͤck beſſer geweiht werden koͤnnen, als der ungluͤck-
lichen Liebe? Man ſieht, man fuͤhlt, man wuͤnſcht mehr,
wenn man nur das Bild ſieht, als wenn man den gan-
zen Siegwart lieſt. — Iſt etwas, das in groſſen
Staͤdten der Erziehung vortheilhaft iſt, ſo iſt’s gewis der
Anblick ſo vieler und mannichfaltiger Werke der Kunſt,
die den Geſchmack beſſer ſchaͤrfen als Regeln; ſo ge-
faͤhrlich freilich auch auf der andern Seite dieſe Plaͤtze
jungen, unverſchloſſenen, Seelen werden koͤnnen. Denn
neben einer Kreuzigung haͤngt eine nackte Danae, oder
eine badende Suſanne, oder eine Venus, unter den
Haͤnden der Grazien, wo die Nachahmung der Natur,
der Reitz, die Feinheit, und die Verſchoͤnerung der Phan-
taſie, kurz alles zuſammen fließt, das Laſter angenehm
zu machen.

Le Cabinet de l’Hiſtoire Naturelle du Roi,
beſuchte ich heute zum erſtenmahl. So ſteht mit goldnen
Buchſtaben uͤber der einen Thuͤre. Das, was man den
Fremden zeigt, iſt in 4 groſſen hohen Zimmern an den
Waͤnden uͤberall herum, und zum Theil auch oben an der
Decke angebracht. Alles iſt in wohlverſchloſſenen
Schraͤnken mit vielen Schubladen und Faͤchern, Glas-
thuͤren, und franzoͤſiſchen Zetteln. Viel Ordnung iſt
nicht in der Anordnung, es ſcheint, es fehlt am Platz,
oder man hat’s noch nicht weiter aus einander bringen
wollen. Vieles ſteht im Schatten, vieles zu niedrig,
vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der
Hand nicht ſehen. Wenns aufgemacht wird, welches
alle Woche zweimahl geſchieht, ſo faͤhrt und geht immer
eine Menge Menſchen von allen Geſchlechtern, Stand
und Alter hinein. Es iſt ein Getuͤmmel, wie aufm

Markt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0074" n="50"/>
ches Stu&#x0364;ck be&#x017F;&#x017F;er geweiht werden ko&#x0364;nnen, als der unglu&#x0364;ck-<lb/>
lichen Liebe? Man &#x017F;ieht, man fu&#x0364;hlt, man wu&#x0364;n&#x017F;cht mehr,<lb/>
wenn man nur das Bild &#x017F;ieht, als wenn man den gan-<lb/>
zen <hi rendition="#fr">Siegwart</hi> lie&#x017F;t. &#x2014; I&#x017F;t etwas, das in gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Sta&#x0364;dten der Erziehung vortheilhaft i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t&#x2019;s gewis der<lb/>
Anblick &#x017F;o vieler und mannichfaltiger Werke der Kun&#x017F;t,<lb/>
die den Ge&#x017F;chmack be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;cha&#x0364;rfen als Regeln; &#x017F;o ge-<lb/>
fa&#x0364;hrlich freilich auch auf der andern Seite die&#x017F;e Pla&#x0364;tze<lb/>
jungen, unver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen, Seelen werden ko&#x0364;nnen. Denn<lb/>
neben einer Kreuzigung ha&#x0364;ngt eine nackte Danae, oder<lb/>
eine badende Su&#x017F;anne, oder eine Venus, unter den<lb/>
Ha&#x0364;nden der Grazien, wo die Nachahmung der Natur,<lb/>
der Reitz, die Feinheit, und die Ver&#x017F;cho&#x0364;nerung der Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie, kurz alles zu&#x017F;ammen fließt, das La&#x017F;ter angenehm<lb/>
zu machen.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">Le Cabinet de l&#x2019;Hi&#x017F;toire Naturelle du Roi,</hi><lb/>
be&#x017F;uchte ich heute zum er&#x017F;tenmahl. So &#x017F;teht mit goldnen<lb/>
Buch&#x017F;taben u&#x0364;ber der einen Thu&#x0364;re. Das, was man den<lb/>
Fremden zeigt, i&#x017F;t in 4 gro&#x017F;&#x017F;en hohen Zimmern an den<lb/>
Wa&#x0364;nden u&#x0364;berall herum, und zum Theil auch oben an der<lb/>
Decke angebracht. Alles i&#x017F;t in wohlver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
Schra&#x0364;nken mit vielen Schubladen und Fa&#x0364;chern, Glas-<lb/>
thu&#x0364;ren, und franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Zetteln. Viel Ordnung i&#x017F;t<lb/>
nicht in der Anordnung, es &#x017F;cheint, es fehlt am Platz,<lb/>
oder man hat&#x2019;s noch nicht weiter aus einander bringen<lb/>
wollen. Vieles &#x017F;teht im Schatten, vieles zu niedrig,<lb/>
vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der<lb/>
Hand nicht &#x017F;ehen. Wenns aufgemacht wird, welches<lb/>
alle Woche zweimahl ge&#x017F;chieht, &#x017F;o fa&#x0364;hrt und geht immer<lb/>
eine Menge Men&#x017F;chen von allen Ge&#x017F;chlechtern, Stand<lb/>
und Alter hinein. Es i&#x017F;t ein Getu&#x0364;mmel, wie aufm<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Markt.</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0074] ches Stuͤck beſſer geweiht werden koͤnnen, als der ungluͤck- lichen Liebe? Man ſieht, man fuͤhlt, man wuͤnſcht mehr, wenn man nur das Bild ſieht, als wenn man den gan- zen Siegwart lieſt. — Iſt etwas, das in groſſen Staͤdten der Erziehung vortheilhaft iſt, ſo iſt’s gewis der Anblick ſo vieler und mannichfaltiger Werke der Kunſt, die den Geſchmack beſſer ſchaͤrfen als Regeln; ſo ge- faͤhrlich freilich auch auf der andern Seite dieſe Plaͤtze jungen, unverſchloſſenen, Seelen werden koͤnnen. Denn neben einer Kreuzigung haͤngt eine nackte Danae, oder eine badende Suſanne, oder eine Venus, unter den Haͤnden der Grazien, wo die Nachahmung der Natur, der Reitz, die Feinheit, und die Verſchoͤnerung der Phan- taſie, kurz alles zuſammen fließt, das Laſter angenehm zu machen. Le Cabinet de l’Hiſtoire Naturelle du Roi, beſuchte ich heute zum erſtenmahl. So ſteht mit goldnen Buchſtaben uͤber der einen Thuͤre. Das, was man den Fremden zeigt, iſt in 4 groſſen hohen Zimmern an den Waͤnden uͤberall herum, und zum Theil auch oben an der Decke angebracht. Alles iſt in wohlverſchloſſenen Schraͤnken mit vielen Schubladen und Faͤchern, Glas- thuͤren, und franzoͤſiſchen Zetteln. Viel Ordnung iſt nicht in der Anordnung, es ſcheint, es fehlt am Platz, oder man hat’s noch nicht weiter aus einander bringen wollen. Vieles ſteht im Schatten, vieles zu niedrig, vieles viel zu hoch. Man kans mit der Lorgnette in der Hand nicht ſehen. Wenns aufgemacht wird, welches alle Woche zweimahl geſchieht, ſo faͤhrt und geht immer eine Menge Menſchen von allen Geſchlechtern, Stand und Alter hinein. Es iſt ein Getuͤmmel, wie aufm Markt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/74
Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/74>, abgerufen am 29.04.2024.