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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 34. Grund des Gesetzes.
halt des Gesetzes zum Bewußtseyn zu bringen, so liegt
Alles, was nicht Theil dieses Inhalts ist, wie verwandt
es ihm auch seyn möge, streng genommen außer den Grän-
zen jener Aufgabe. Dahin gehört also auch die Einsicht
in den Grund des Gesetzes (ratio legis). Der Begriff
dieses Grundes ist auf sehr verschiedene Weise aufgefaßt
worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit gesetzt
hat, bald in die Zukunft. Nach der ersten Ansicht gilt
als Grund die schon vorhandene höhere Rechtsregel, deren
consequente Durchführung das gegenwärtige Gesetz her-
beygeführt hat. Nach der zweyten Ansicht gilt als Grund
die Wirkung, die durch das Gesetz hervorgebracht werden
soll, so daß der Grund, von diesem Standpunkt aus, auch
als Zweck oder als Absicht des Gesetzes bezeichnet wird.
Es würde irrig seyn, diese beiden Ansichten in einem ab-
soluten Gegensatz zu denken. Vielmehr ist anzunehmen,
daß dem Gesetzgeber stets beide Beziehungen seines Ge-
dankens gegenwärtig gewesen sind. Eine relative Ver-
schiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine,
bald die andere derselben bey einzelnen Gesetzen überwie-
gend seyn kann. Hierin ist besonders von Einfluß der
oben erklärte Unterschied des regelmäßigen und anomali-
schen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus
commune
) wird meist vorherrschend seyn die Beziehung
auf schon bestehende Rechtsregeln, die hier zur vollständi-
geren Entwicklung kommen sollen; der Zweck ist blos der
allgemeine, daß das Recht bestimmter erkannt und sicherer

§. 34. Grund des Geſetzes.
halt des Geſetzes zum Bewußtſeyn zu bringen, ſo liegt
Alles, was nicht Theil dieſes Inhalts iſt, wie verwandt
es ihm auch ſeyn möge, ſtreng genommen außer den Grän-
zen jener Aufgabe. Dahin gehört alſo auch die Einſicht
in den Grund des Geſetzes (ratio legis). Der Begriff
dieſes Grundes iſt auf ſehr verſchiedene Weiſe aufgefaßt
worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit geſetzt
hat, bald in die Zukunft. Nach der erſten Anſicht gilt
als Grund die ſchon vorhandene höhere Rechtsregel, deren
conſequente Durchführung das gegenwärtige Geſetz her-
beygeführt hat. Nach der zweyten Anſicht gilt als Grund
die Wirkung, die durch das Geſetz hervorgebracht werden
ſoll, ſo daß der Grund, von dieſem Standpunkt aus, auch
als Zweck oder als Abſicht des Geſetzes bezeichnet wird.
Es würde irrig ſeyn, dieſe beiden Anſichten in einem ab-
ſoluten Gegenſatz zu denken. Vielmehr iſt anzunehmen,
daß dem Geſetzgeber ſtets beide Beziehungen ſeines Ge-
dankens gegenwärtig geweſen ſind. Eine relative Ver-
ſchiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine,
bald die andere derſelben bey einzelnen Geſetzen überwie-
gend ſeyn kann. Hierin iſt beſonders von Einfluß der
oben erklärte Unterſchied des regelmäßigen und anomali-
ſchen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus
commune
) wird meiſt vorherrſchend ſeyn die Beziehung
auf ſchon beſtehende Rechtsregeln, die hier zur vollſtändi-
geren Entwicklung kommen ſollen; der Zweck iſt blos der
allgemeine, daß das Recht beſtimmter erkannt und ſicherer

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[217/0273] §. 34. Grund des Geſetzes. halt des Geſetzes zum Bewußtſeyn zu bringen, ſo liegt Alles, was nicht Theil dieſes Inhalts iſt, wie verwandt es ihm auch ſeyn möge, ſtreng genommen außer den Grän- zen jener Aufgabe. Dahin gehört alſo auch die Einſicht in den Grund des Geſetzes (ratio legis). Der Begriff dieſes Grundes iſt auf ſehr verſchiedene Weiſe aufgefaßt worden, indem man ihn bald in die Vergangenheit geſetzt hat, bald in die Zukunft. Nach der erſten Anſicht gilt als Grund die ſchon vorhandene höhere Rechtsregel, deren conſequente Durchführung das gegenwärtige Geſetz her- beygeführt hat. Nach der zweyten Anſicht gilt als Grund die Wirkung, die durch das Geſetz hervorgebracht werden ſoll, ſo daß der Grund, von dieſem Standpunkt aus, auch als Zweck oder als Abſicht des Geſetzes bezeichnet wird. Es würde irrig ſeyn, dieſe beiden Anſichten in einem ab- ſoluten Gegenſatz zu denken. Vielmehr iſt anzunehmen, daß dem Geſetzgeber ſtets beide Beziehungen ſeines Ge- dankens gegenwärtig geweſen ſind. Eine relative Ver- ſchiedenheit aber liegt allerdings darin, daß bald die eine, bald die andere derſelben bey einzelnen Geſetzen überwie- gend ſeyn kann. Hierin iſt beſonders von Einfluß der oben erklärte Unterſchied des regelmäßigen und anomali- ſchen Rechts (§ 16). Bey dem regelmäßigen Recht (Jus commune) wird meiſt vorherrſchend ſeyn die Beziehung auf ſchon beſtehende Rechtsregeln, die hier zur vollſtändi- geren Entwicklung kommen ſollen; der Zweck iſt blos der allgemeine, daß das Recht beſtimmter erkannt und ſicherer

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/273>, abgerufen am 29.04.2024.