Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 48. Aussprüche des Römischen Rechts. Fortsetzung.
sie ganz buchstäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß
verschwinden vor der öfter wiederholten ausschließenden
Befugniß des Kaisers zur Auslegung, noch mehr aber
vor der stets wiederkehrenden Parallele zwischen Gesetzge-
bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiser
Gesetze geben konnte, so sollte (wegen der völligen Gleich-
stellung beider Geschäfte) auch Keiner als er sie auslegen
dürfen. Und in der That lag darin nur eine consequente
Durchführung desselben Grundsatzes, welcher auf das
Verbot jeder künftigen Rechtswissenschaft führte (§. 26).
Zwar denken ließe sich noch neben diesem Verbot eine den
Richtern gestattete freye Auslegung; daß es Justinian nicht
so gemeynt hat, ist ganz klar aus der zweyten Verordnung,
welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den
Sinn eines Gesetzes die Anfrage bei dem Kaiser schlecht-
hin zur Pflicht macht. Auch consequenter war es so, wie
Justinian es wirklich einrichtete. Es sollte nun Jedem,
der mit den Gesetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich-
ter, nur ein mechanisches Verfahren erlaubt, jede freye
Geistesthätigkeit schlechthin verboten seyn. Alle diese Vor-
schriften waren sichtbar aus Einem Stück. -- Zwar könnte
man es für inconsequent halten, daß Justinian zugleich
vorschreibt, bey scheinbaren Widersprüchen subtili animo
eine Vereinigung zu suchen (§ 44); allein dieses darf bei
ihm nicht als scharfsinnige Auslegung gedacht werden,
die gewiß nicht in seinem Sinne ist, sondern als ein Her-
umsuchen nach einem versteckten Wort, worin die Ver-

20

§. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung.
ſie ganz buchſtäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß
verſchwinden vor der öfter wiederholten ausſchließenden
Befugniß des Kaiſers zur Auslegung, noch mehr aber
vor der ſtets wiederkehrenden Parallele zwiſchen Geſetzge-
bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiſer
Geſetze geben konnte, ſo ſollte (wegen der völligen Gleich-
ſtellung beider Geſchäfte) auch Keiner als er ſie auslegen
dürfen. Und in der That lag darin nur eine conſequente
Durchführung deſſelben Grundſatzes, welcher auf das
Verbot jeder künftigen Rechtswiſſenſchaft führte (§. 26).
Zwar denken ließe ſich noch neben dieſem Verbot eine den
Richtern geſtattete freye Auslegung; daß es Juſtinian nicht
ſo gemeynt hat, iſt ganz klar aus der zweyten Verordnung,
welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den
Sinn eines Geſetzes die Anfrage bei dem Kaiſer ſchlecht-
hin zur Pflicht macht. Auch conſequenter war es ſo, wie
Juſtinian es wirklich einrichtete. Es ſollte nun Jedem,
der mit den Geſetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich-
ter, nur ein mechaniſches Verfahren erlaubt, jede freye
Geiſtesthätigkeit ſchlechthin verboten ſeyn. Alle dieſe Vor-
ſchriften waren ſichtbar aus Einem Stück. — Zwar könnte
man es für inconſequent halten, daß Juſtinian zugleich
vorſchreibt, bey ſcheinbaren Widerſprüchen subtili animo
eine Vereinigung zu ſuchen (§ 44); allein dieſes darf bei
ihm nicht als ſcharfſinnige Auslegung gedacht werden,
die gewiß nicht in ſeinem Sinne iſt, ſondern als ein Her-
umſuchen nach einem verſteckten Wort, worin die Ver-

20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0361" n="305"/><fw place="top" type="header">§. 48. Aus&#x017F;prüche des Römi&#x017F;chen Rechts. Fort&#x017F;etzung.</fw><lb/>
&#x017F;ie ganz buch&#x017F;täblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß<lb/>
ver&#x017F;chwinden vor der öfter wiederholten aus&#x017F;chließenden<lb/>
Befugniß des Kai&#x017F;ers zur Auslegung, noch mehr aber<lb/>
vor der &#x017F;tets wiederkehrenden Parallele zwi&#x017F;chen Ge&#x017F;etzge-<lb/>
bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kai&#x017F;er<lb/>
Ge&#x017F;etze geben konnte, &#x017F;o &#x017F;ollte (wegen der völligen Gleich-<lb/>
&#x017F;tellung beider Ge&#x017F;chäfte) auch Keiner als er &#x017F;ie auslegen<lb/>
dürfen. Und in der That lag darin nur eine con&#x017F;equente<lb/>
Durchführung de&#x017F;&#x017F;elben Grund&#x017F;atzes, welcher auf das<lb/>
Verbot jeder künftigen Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft führte (§. 26).<lb/>
Zwar denken ließe &#x017F;ich noch neben die&#x017F;em Verbot eine den<lb/>
Richtern ge&#x017F;tattete freye Auslegung; daß es Ju&#x017F;tinian nicht<lb/>
&#x017F;o gemeynt hat, i&#x017F;t ganz klar aus der zweyten Verordnung,<lb/>
welche gerade den <hi rendition="#g">Richtern</hi> für jeden Zweifel über den<lb/>
Sinn eines Ge&#x017F;etzes die Anfrage bei dem Kai&#x017F;er &#x017F;chlecht-<lb/>
hin zur Pflicht macht. Auch con&#x017F;equenter war es &#x017F;o, wie<lb/>
Ju&#x017F;tinian es wirklich einrichtete. Es &#x017F;ollte nun Jedem,<lb/>
der mit den Ge&#x017F;etzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich-<lb/>
ter, nur ein mechani&#x017F;ches Verfahren erlaubt, jede freye<lb/>
Gei&#x017F;testhätigkeit &#x017F;chlechthin verboten &#x017F;eyn. Alle die&#x017F;e Vor-<lb/>
&#x017F;chriften waren &#x017F;ichtbar aus Einem Stück. &#x2014; Zwar könnte<lb/>
man es für incon&#x017F;equent halten, daß Ju&#x017F;tinian zugleich<lb/>
vor&#x017F;chreibt, bey &#x017F;cheinbaren Wider&#x017F;prüchen <hi rendition="#aq">subtili animo</hi><lb/>
eine Vereinigung zu &#x017F;uchen (§ 44); allein die&#x017F;es darf bei<lb/>
ihm nicht als &#x017F;charf&#x017F;innige Auslegung gedacht werden,<lb/>
die gewiß nicht in &#x017F;einem Sinne i&#x017F;t, &#x017F;ondern als ein Her-<lb/>
um&#x017F;uchen nach einem ver&#x017F;teckten Wort, worin die Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">20</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0361] §. 48. Ausſprüche des Römiſchen Rechts. Fortſetzung. ſie ganz buchſtäblich zu nehmen. Allein jeder Zweifel muß verſchwinden vor der öfter wiederholten ausſchließenden Befugniß des Kaiſers zur Auslegung, noch mehr aber vor der ſtets wiederkehrenden Parallele zwiſchen Geſetzge- bung und Auslegung: denn da gewiß Keiner als der Kaiſer Geſetze geben konnte, ſo ſollte (wegen der völligen Gleich- ſtellung beider Geſchäfte) auch Keiner als er ſie auslegen dürfen. Und in der That lag darin nur eine conſequente Durchführung deſſelben Grundſatzes, welcher auf das Verbot jeder künftigen Rechtswiſſenſchaft führte (§. 26). Zwar denken ließe ſich noch neben dieſem Verbot eine den Richtern geſtattete freye Auslegung; daß es Juſtinian nicht ſo gemeynt hat, iſt ganz klar aus der zweyten Verordnung, welche gerade den Richtern für jeden Zweifel über den Sinn eines Geſetzes die Anfrage bei dem Kaiſer ſchlecht- hin zur Pflicht macht. Auch conſequenter war es ſo, wie Juſtinian es wirklich einrichtete. Es ſollte nun Jedem, der mit den Geſetzen in Berührung kam, Lehrer oder Rich- ter, nur ein mechaniſches Verfahren erlaubt, jede freye Geiſtesthätigkeit ſchlechthin verboten ſeyn. Alle dieſe Vor- ſchriften waren ſichtbar aus Einem Stück. — Zwar könnte man es für inconſequent halten, daß Juſtinian zugleich vorſchreibt, bey ſcheinbaren Widerſprüchen subtili animo eine Vereinigung zu ſuchen (§ 44); allein dieſes darf bei ihm nicht als ſcharfſinnige Auslegung gedacht werden, die gewiß nicht in ſeinem Sinne iſt, ſondern als ein Her- umſuchen nach einem verſteckten Wort, worin die Ver- 20

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/361
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/361>, abgerufen am 29.04.2024.