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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Gesetze.
ken gewesen wäre. Täuschen wir uns dabey nicht durch
die Wahrnehmung, daß auch die nicht besonders gelehr-
ten unter unsern Richtern sich dennoch mit Justinians Ge-
setzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen steht zur Seite
die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr-
buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer sieben-
hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch-
lichste Weise darbietet. Denken wir uns nun aber diese
Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem
Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene persönliche Kraft
verwiesen, einen ungelehrten Richter, wie sie alle seyn
würden, wenn Justinians Vorschriften über die Rechts-
wissenschaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube,
bey einem solchen Richter, wenn er nur gewissenhaft wäre,
würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey
dem Gesetzgeber, der aber dann in einem großen Lande
die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er-
fordert würde, die Maschine der Rechtspflege im täglichen
Gang zu erhalten. Dennoch muß sich dieser Erfolg in
Justinians Reich nicht gezeigt haben; sonst hätte er schwer-
lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digesten die
Vorschrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie-
derholen können (d), da man in dieser Zeit doch hinrei-
chende Erfahrungen gesammelt haben konnte. Diese auf-
fallende Erscheinung erklärt sich daraus, daß nicht selten
ganz entgegengesetzte Kräfte zu demselben Ziele führen

(d) Nov. 113. C. 1 pr. von 541.

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
ken geweſen wäre. Täuſchen wir uns dabey nicht durch
die Wahrnehmung, daß auch die nicht beſonders gelehr-
ten unter unſern Richtern ſich dennoch mit Juſtinians Ge-
ſetzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen ſteht zur Seite
die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr-
buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer ſieben-
hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch-
lichſte Weiſe darbietet. Denken wir uns nun aber dieſe
Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem
Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene perſönliche Kraft
verwieſen, einen ungelehrten Richter, wie ſie alle ſeyn
würden, wenn Juſtinians Vorſchriften über die Rechts-
wiſſenſchaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube,
bey einem ſolchen Richter, wenn er nur gewiſſenhaft wäre,
würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey
dem Geſetzgeber, der aber dann in einem großen Lande
die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er-
fordert würde, die Maſchine der Rechtspflege im täglichen
Gang zu erhalten. Dennoch muß ſich dieſer Erfolg in
Juſtinians Reich nicht gezeigt haben; ſonſt hätte er ſchwer-
lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digeſten die
Vorſchrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie-
derholen können (d), da man in dieſer Zeit doch hinrei-
chende Erfahrungen geſammelt haben konnte. Dieſe auf-
fallende Erſcheinung erklärt ſich daraus, daß nicht ſelten
ganz entgegengeſetzte Kräfte zu demſelben Ziele führen

(d) Nov. 113. C. 1 pr. von 541.
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[310/0366] Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze. ken geweſen wäre. Täuſchen wir uns dabey nicht durch die Wahrnehmung, daß auch die nicht beſonders gelehr- ten unter unſern Richtern ſich dennoch mit Juſtinians Ge- ſetzen leidlich genug zurecht finden. Ihnen ſteht zur Seite die freundliche Hülfe irgend eines Collegienheftes oder Lehr- buches, welches ihnen die genießbare Frucht einer ſieben- hundertjährigen Arbeit und Überlieferung auf die gemäch- lichſte Weiſe darbietet. Denken wir uns nun aber dieſe Arbeit von Sieben Jahrhunderten hinweg, und dann dem Corpus Juris gegenüber, blos auf eigene perſönliche Kraft verwieſen, einen ungelehrten Richter, wie ſie alle ſeyn würden, wenn Juſtinians Vorſchriften über die Rechts- wiſſenſchaft bisher befolgt worden wären. Ich glaube, bey einem ſolchen Richter, wenn er nur gewiſſenhaft wäre, würden wenige Gerichtstage vergehen ohne Anfragen bey dem Geſetzgeber, der aber dann in einem großen Lande die Arbeit nicht mehr bezwingen könnte, die blos dazu er- fordert würde, die Maſchine der Rechtspflege im täglichen Gang zu erhalten. Dennoch muß ſich dieſer Erfolg in Juſtinians Reich nicht gezeigt haben; ſonſt hätte er ſchwer- lich noch Acht Jahre nach Einführung der Digeſten die Vorſchrift der Anfragen zum Zweck der Auslegung wie- derholen können (d), da man in dieſer Zeit doch hinrei- chende Erfahrungen geſammelt haben konnte. Dieſe auf- fallende Erſcheinung erklärt ſich daraus, daß nicht ſelten ganz entgegengeſetzte Kräfte zu demſelben Ziele führen (d) Nov. 113. C. 1 pr. von 541.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/366>, abgerufen am 08.05.2024.