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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847.

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§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortsetzung.)

Die angegebene Behauptung würde nur unter der Vor-
aussetzung wahr und zugleich ausreichend seyn, wenn stets
in dem Urtheil alle objectiven Gründe, in den Urtheils-
gründen alle subjectiven Gründe, und nur diese, enthalten
wären. Dann würde diese Behauptung mit der oben auf-
gestellten Lehre (§ 291) völlig übereinstimmen.

Jene Voraussetzung aber trifft in der Wirklichkeit ganz
und gar nicht zu, ja sie kann schon deshalb nicht zutreffen,
weil in der Abfassung der Urtheilsgründe die größten Ver-
schiedenheiten wahrzunehmen sind. Unmöglich kann aber
der Umfang der Rechtskraft von einem so zufälligen und
willkührlichen Verfahren der verschiedenen Gerichte abhängig
gemacht werden.

Ich will dabei nicht die großen Verschiedenheiten der
äußeren Form erwähnen, die hier weniger in Betracht
kommen (a). Aber auch darin herrscht große Verschieden-
heit, daß bald mehr, bald weniger in das Urtheil selbst
aufgenommen wird, so daß die Gränze zwischen beiden

(a) In den älteren Fakultäts-
urtheilen findet sich die pedantische
Form, erst die Zweifelsgründe,
dann die Entscheidungsgründe dem
Urtheil voranzuschicken, beide aber
mit dem Urtheil zu einem einzigen
Satz zu verbinden, selbst wenn
dieser durch eine große Zahl von
Bogen hindurch ging, z. B. so an-
fangend: "Wenn es gleich scheinen
wollte, daß ...; dennoch aber und
dieweilen" u. s. w. -- In der An-
ordnung ähnlich sind die, nach
Französischer Form abgefaßten Ur-
theile, welchen ein Considerant
(In Erwägung), oft in sehr vie-
len einzelnen Sätzen, vorhergeht. --
Die neuere, in Deutschen Gerichten
vorherrschende Form ist die, daß
dem Urtheil die Gründe in Gestalt
einer besonderen Abhandlung, eines
Gutachtens, beigegeben werden.
Vgl. Danz Prozeß, Anhang S. 67.
Brinkmann richterliche Urtheils-
gründe S. 91.
24*
§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

Die angegebene Behauptung würde nur unter der Vor-
ausſetzung wahr und zugleich ausreichend ſeyn, wenn ſtets
in dem Urtheil alle objectiven Gründe, in den Urtheils-
gründen alle ſubjectiven Gründe, und nur dieſe, enthalten
wären. Dann würde dieſe Behauptung mit der oben auf-
geſtellten Lehre (§ 291) völlig übereinſtimmen.

Jene Vorausſetzung aber trifft in der Wirklichkeit ganz
und gar nicht zu, ja ſie kann ſchon deshalb nicht zutreffen,
weil in der Abfaſſung der Urtheilsgründe die größten Ver-
ſchiedenheiten wahrzunehmen ſind. Unmöglich kann aber
der Umfang der Rechtskraft von einem ſo zufälligen und
willkührlichen Verfahren der verſchiedenen Gerichte abhängig
gemacht werden.

Ich will dabei nicht die großen Verſchiedenheiten der
äußeren Form erwähnen, die hier weniger in Betracht
kommen (a). Aber auch darin herrſcht große Verſchieden-
heit, daß bald mehr, bald weniger in das Urtheil ſelbſt
aufgenommen wird, ſo daß die Gränze zwiſchen beiden

(a) In den älteren Fakultäts-
urtheilen findet ſich die pedantiſche
Form, erſt die Zweifelsgründe,
dann die Entſcheidungsgründe dem
Urtheil voranzuſchicken, beide aber
mit dem Urtheil zu einem einzigen
Satz zu verbinden, ſelbſt wenn
dieſer durch eine große Zahl von
Bogen hindurch ging, z. B. ſo an-
fangend: „Wenn es gleich ſcheinen
wollte, daß …; dennoch aber und
dieweilen“ u. ſ. w. — In der An-
ordnung ähnlich ſind die, nach
Franzöſiſcher Form abgefaßten Ur-
theile, welchen ein Considérant
(In Erwägung), oft in ſehr vie-
len einzelnen Sätzen, vorhergeht. —
Die neuere, in Deutſchen Gerichten
vorherrſchende Form iſt die, daß
dem Urtheil die Gründe in Geſtalt
einer beſonderen Abhandlung, eines
Gutachtens, beigegeben werden.
Vgl. Danz Prozeß, Anhang S. 67.
Brinkmann richterliche Urtheils-
gründe S. 91.
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[371/0389] §. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.) Die angegebene Behauptung würde nur unter der Vor- ausſetzung wahr und zugleich ausreichend ſeyn, wenn ſtets in dem Urtheil alle objectiven Gründe, in den Urtheils- gründen alle ſubjectiven Gründe, und nur dieſe, enthalten wären. Dann würde dieſe Behauptung mit der oben auf- geſtellten Lehre (§ 291) völlig übereinſtimmen. Jene Vorausſetzung aber trifft in der Wirklichkeit ganz und gar nicht zu, ja ſie kann ſchon deshalb nicht zutreffen, weil in der Abfaſſung der Urtheilsgründe die größten Ver- ſchiedenheiten wahrzunehmen ſind. Unmöglich kann aber der Umfang der Rechtskraft von einem ſo zufälligen und willkührlichen Verfahren der verſchiedenen Gerichte abhängig gemacht werden. Ich will dabei nicht die großen Verſchiedenheiten der äußeren Form erwähnen, die hier weniger in Betracht kommen (a). Aber auch darin herrſcht große Verſchieden- heit, daß bald mehr, bald weniger in das Urtheil ſelbſt aufgenommen wird, ſo daß die Gränze zwiſchen beiden (a) In den älteren Fakultäts- urtheilen findet ſich die pedantiſche Form, erſt die Zweifelsgründe, dann die Entſcheidungsgründe dem Urtheil voranzuſchicken, beide aber mit dem Urtheil zu einem einzigen Satz zu verbinden, ſelbſt wenn dieſer durch eine große Zahl von Bogen hindurch ging, z. B. ſo an- fangend: „Wenn es gleich ſcheinen wollte, daß …; dennoch aber und dieweilen“ u. ſ. w. — In der An- ordnung ähnlich ſind die, nach Franzöſiſcher Form abgefaßten Ur- theile, welchen ein Considérant (In Erwägung), oft in ſehr vie- len einzelnen Sätzen, vorhergeht. — Die neuere, in Deutſchen Gerichten vorherrſchende Form iſt die, daß dem Urtheil die Gründe in Geſtalt einer beſonderen Abhandlung, eines Gutachtens, beigegeben werden. Vgl. Danz Prozeß, Anhang S. 67. Brinkmann richterliche Urtheils- gründe S. 91. 24*

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/389>, abgerufen am 26.04.2024.