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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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wie die Priester, sei es zu andern Zwecken. Sie ist immer psc_138.002
an die Talente, an die mittheilenden Besitzer gebunden. Der psc_138.003
ideale Werth der Poesie richtet sich nach ihren Zwecken: man psc_138.004
wünscht sie zur Ergötzlichkeit, zur Belehrung, zur Erbauung.

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Es erhebt sich die weitere Frage: läßt sich ein festes psc_138.006
Verhältniß angeben, in welchem die Poesie zu ihren Wirkungen psc_138.007
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Das Hauptbeispiel hierfür bietet das Verhältniß der psc_138.009
Poesie zur Sittlichkeit. Läßt sich ein festes Verhältniß psc_138.010
der Poesie zur Sittlichkeit angeben? Jst es möglich, feste psc_138.011
Gesetze aufzustellen, wie die Poesie sich zur Sittlichkeit verhalten psc_138.012
soll?

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Jch halte diese Frage für unlösbar. Historisch ist unzweifelhaft, psc_138.014
daß die Poesie eine große sittliche Bildnerin der psc_138.015
Völker, daß sie ein Haupterziehungsmittel der Nationen ist. psc_138.016
Die Poesie hat in unzähligen Fällen seit Jahrtausenden das psc_138.017
zu empfehlen gesucht und in glänzenden Farben dargestellt, psc_138.018
was die Aufopferung in den Menschen verstärken und den psc_138.019
Egoismus zurückdrängen konnte. Sie hat unendlich viele psc_138.020
Vorbilder des Großen, Guten, Edlen aufgestellt.

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Vom Standpunct der Poetik aber ist es wieder eine psc_138.022
unlösbare Frage: soll die Poesie sittlich wirken? soll sie eine psc_138.023
sittliche Bildnerin der Völker sein?

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Sie ist es thatsächlich gewesen, und oft.

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Aber sehr große Dichter, wie Goethe, haben sich gegen psc_138.026
diese sittliche Function der Poesie erhoben als eine Profanation psc_138.027
der Poesie, und neuere Theoretiker erklären den psc_138.028
Zweck der Poesie für einen Zopf. Man darf wohl annehmen,

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/154>, abgerufen am 26.04.2024.