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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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standen sich entgegen imagination und raison, und bei psc_165.002
Boileau wurde der letztere Factor ausschließlich begünstigt, psc_165.003
während die üppigen gehäuften Figuren und Tropen der psc_165.004
imagination und ihren Excessen zugeschrieben wurden. Der psc_165.005
Streit setzte sich bis Gottsched fort.

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Die Wahrheit ist wohl, daß in der Regel bei Kunstwerken psc_165.007
beides nöthig ist: die unbewußte Überfülle poetisch psc_165.008
anmuthender Einfälle, und die bewußte Arbeit, der Geschmack, psc_165.009
die vernünftige Herrschaft darüber, die sie zu Rath psc_165.010
zu halten weiß.

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Das erste Erfassen des Stoffs und das verschwenderisch psc_165.012
reiche Aufquellen desselben, das ihn als einen fruchtbaren psc_165.013
zeigt, ist zunächst das Werk der Phantasie. Wenn es dann psc_165.014
gilt, auszuwählen, für die Darstellung zuzubereiten, dann psc_165.015
tritt der ordnende Verstand in seine Rechte. Dieser Verstand psc_165.016
ohne Phantasie führt zur Trockenheit und Nüchternheit, die psc_165.017
Phantasie ohne den Verstand zur Unordnung und Überhäufung. psc_165.018
Dort werden wir nicht angeregt, hier wird der psc_165.019
Anregung zu viel und wir ermüden. Für den Beobachter aber psc_165.020
bleibt immer die Frage: was ist thatsächlich, und was folgt aus psc_165.021
den thatsächlichen Verhältnissen?

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Die eigentliche Quelle also, aus der die Dichtkunst psc_165.023
fließen muß und immer floß, ist die Phantasie.

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Jhre Production, sahen wir, ist Reproduction; aber psc_165.025
gerade bei großer Fähigkeit und lebhafter Wirkung der Phantasie psc_165.026
eine nicht getreue, sondern möglichst variirende und psc_165.027
variable Reproduction, so daß die einzelnen Vorstellungen psc_165.028
gleichsam Durchschnittspuncte vieler sich kreuzender Fäden

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standen sich entgegen imagination und raison, und bei psc_165.002
Boileau wurde der letztere Factor ausschließlich begünstigt, psc_165.003
während die üppigen gehäuften Figuren und Tropen der psc_165.004
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  Die Wahrheit ist wohl, daß in der Regel bei Kunstwerken psc_165.007
beides nöthig ist: die unbewußte Überfülle poetisch psc_165.008
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die vernünftige Herrschaft darüber, die sie zu Rath psc_165.010
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  Das erste Erfassen des Stoffs und das verschwenderisch psc_165.012
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zeigt, ist zunächst das Werk der Phantasie. Wenn es dann psc_165.014
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ohne Phantasie führt zur Trockenheit und Nüchternheit, die psc_165.017
Phantasie ohne den Verstand zur Unordnung und Überhäufung. psc_165.018
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  Die eigentliche Quelle also, aus der die Dichtkunst psc_165.023
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  Jhre Production, sahen wir, ist Reproduction; aber psc_165.025
gerade bei großer Fähigkeit und lebhafter Wirkung der Phantasie psc_165.026
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/181>, abgerufen am 26.04.2024.