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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Stimme vergegenwärtigen; und je deutlicher ich glaube seine psc_168.002
Stimme zu vernehmen, desto besser für die Lebhaftigkeit der psc_168.003
Vorstellungen, desto stärker meine Phantasie.

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Aber wie sich hier die Sinne zusammenfinden, um ein psc_168.005
bestimmtes Bild auszugestalten, so können auch allgemeine psc_168.006
Analogien obwalten zwischen Tönen, Farben, Formen, Stimmungen psc_168.007
-- und diese aus dem Unbestimmten zu bestimmten psc_168.008
Gebilden fortschreiten. Die Wirkung der Phantasie zeigt psc_168.009
sich dann eben darin, daß die zuerst ganz allgemeinen Anregungen psc_168.010
sich allmälig ins Einzelne verdichten.

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Über diesen Punct besitzen wir merkwürdige Selbstbekenntnisse psc_168.012
eines Dichters: von Otto Ludwig (Werke 1, psc_168.013
S. XI), begleitet von Betrachtungen G. Freytags, welche auch psc_168.014
Erfahrungen beibringen, die er an sich gemacht hat, aber psc_168.015
die Sache wohl nicht erschöpfen.

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"Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung psc_168.017
voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe; dann sehe psc_168.018
ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgend einer Stellung psc_168.019
und Gliederung für sich oder gegen einander, und dies wie psc_168.020
ein Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer psc_168.021
ausgedrückt wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, psc_168.022
auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene psc_168.023
Farbe hat. Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn psc_168.024
ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetze psc_168.025
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethes Gedichte psc_168.026
geben, so habe ich ein gesättigt Goldgelb, ins Goldbraune psc_168.027
spielend; wie Schillers, so habe ich ein strahlendes Carmoisin;

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Stimme vergegenwärtigen; und je deutlicher ich glaube seine psc_168.002
Stimme zu vernehmen, desto besser für die Lebhaftigkeit der psc_168.003
Vorstellungen, desto stärker meine Phantasie.

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  Aber wie sich hier die Sinne zusammenfinden, um ein psc_168.005
bestimmtes Bild auszugestalten, so können auch allgemeine psc_168.006
Analogien obwalten zwischen Tönen, Farben, Formen, Stimmungen psc_168.007
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Gebilden fortschreiten. Die Wirkung der Phantasie zeigt psc_168.009
sich dann eben darin, daß die zuerst ganz allgemeinen Anregungen psc_168.010
sich allmälig ins Einzelne verdichten.

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  Über diesen Punct besitzen wir merkwürdige Selbstbekenntnisse psc_168.012
eines Dichters: von Otto Ludwig (Werke 1, psc_168.013
S. XI), begleitet von Betrachtungen G. Freytags, welche auch psc_168.014
Erfahrungen beibringen, die er an sich gemacht hat, aber psc_168.015
die Sache wohl nicht erschöpfen.

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  „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung psc_168.017
voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe; dann sehe psc_168.018
ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgend einer Stellung psc_168.019
und Gliederung für sich oder gegen einander, und dies wie psc_168.020
ein Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer psc_168.021
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auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene psc_168.023
Farbe hat. Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn psc_168.024
ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetze psc_168.025
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[168/0184] psc_168.001 Stimme vergegenwärtigen; und je deutlicher ich glaube seine psc_168.002 Stimme zu vernehmen, desto besser für die Lebhaftigkeit der psc_168.003 Vorstellungen, desto stärker meine Phantasie. psc_168.004   Aber wie sich hier die Sinne zusammenfinden, um ein psc_168.005 bestimmtes Bild auszugestalten, so können auch allgemeine psc_168.006 Analogien obwalten zwischen Tönen, Farben, Formen, Stimmungen psc_168.007 — und diese aus dem Unbestimmten zu bestimmten psc_168.008 Gebilden fortschreiten. Die Wirkung der Phantasie zeigt psc_168.009 sich dann eben darin, daß die zuerst ganz allgemeinen Anregungen psc_168.010 sich allmälig ins Einzelne verdichten. psc_168.011   Über diesen Punct besitzen wir merkwürdige Selbstbekenntnisse psc_168.012 eines Dichters: von Otto Ludwig (Werke 1, psc_168.013 S. XI), begleitet von Betrachtungen G. Freytags, welche auch psc_168.014 Erfahrungen beibringen, die er an sich gemacht hat, aber psc_168.015 die Sache wohl nicht erschöpfen. psc_168.016   „Mein Verfahren ist dies: es geht eine Stimmung psc_168.017 voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe; dann sehe psc_168.018 ich Gestalten, eine oder mehrere, in irgend einer Stellung psc_168.019 und Gliederung für sich oder gegen einander, und dies wie psc_168.020 ein Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer psc_168.021 ausgedrückt wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, psc_168.022 auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene psc_168.023 Farbe hat. Diese Farbenerscheinung habe ich auch, wenn psc_168.024 ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetze psc_168.025 ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethes Gedichte psc_168.026 geben, so habe ich ein gesättigt Goldgelb, ins Goldbraune psc_168.027 spielend; wie Schillers, so habe ich ein strahlendes Carmoisin;

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/184>, abgerufen am 27.04.2024.