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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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tung seine Wirkung erfüllt habe, dürfen Sie mir
nicht antworten. Wenn der Einfluß in diese Welt
die ganze Bestimmung des Menschen erschöpft, so
muß sein Daseyn zugleich mit seiner Wirkung auf¬
hören.

Ich verweise Sie an das sprechende Beispiel
der physischen Natur, von der Sie mir doch ein¬
räumen müssen, daß sie nur für die Zeitlichkeit
arbeite. Wie viele Keime und Embryonen, die
sie mit so viel Kunst und Sorgfalt zum künftigen
Leben zusammensezte, werden wieder in das Ele¬
mentenreich aufgelös't, ohne je zur Entwicklung zu
gedeihen. -- Warum sezte sie sie zusammen? In
jedem Menschenpaare schläft, wie in dem ersten, ein
ganzes Menschengeschlecht, warum ließ sie aus so
viel Millionen nur ein einziges werden? So ge¬
wiß sie auch diese verderbenden Keime verarbeitet,
so gewiß werden auch moralische Wesen, bei de¬
nen sie einen höhern Zweck zu verlassen schien, frü¬
her oder später in denselbigen eintreten. Ergrün¬
den zu wollen, wie sie eine einzelne Wirkung durch
die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindische
Anmaßung verrathen. Oft, sehen wir, läßt sie
den Faden einer That, einer Begebenheit plötzlich
fallen, den sie drei Jahrtausende nachher eben
so plötzlich wieder aufnimmt, versenkt in Kalabrien
die Künste und Sitten des achtzehnten Jahr¬
hunderts, um sie vielleicht im dreissigsten dem
verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt
viele Menschenalter lang gesund Nomadenhorden
auf den tarlarischen Steppen, um sie einst dem

ermat¬

tung ſeine Wirkung erfüllt habe, dürfen Sie mir
nicht antworten. Wenn der Einfluß in dieſe Welt
die ganze Beſtimmung des Menſchen erſchöpft, ſo
muß ſein Daſeyn zugleich mit ſeiner Wirkung auf¬
hören.

Ich verweiſe Sie an das ſprechende Beiſpiel
der phyſiſchen Natur, von der Sie mir doch ein¬
räumen müſſen, daß ſie nur für die Zeitlichkeit
arbeite. Wie viele Keime und Embryonen, die
ſie mit ſo viel Kunſt und Sorgfalt zum künftigen
Leben zuſammenſezte, werden wieder in das Ele¬
mentenreich aufgelöſ't, ohne je zur Entwicklung zu
gedeihen. — Warum ſezte ſie ſie zuſammen? In
jedem Menſchenpaare ſchläft, wie in dem erſten, ein
ganzes Menſchengeſchlecht, warum ließ ſie aus ſo
viel Millionen nur ein einziges werden? So ge¬
wiß ſie auch dieſe verderbenden Keime verarbeitet,
ſo gewiß werden auch moraliſche Weſen, bei de¬
nen ſie einen höhern Zweck zu verlaſſen ſchien, frü¬
her oder ſpäter in denſelbigen eintreten. Ergrün¬
den zu wollen, wie ſie eine einzelne Wirkung durch
die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindiſche
Anmaßung verrathen. Oft, ſehen wir, läßt ſie
den Faden einer That, einer Begebenheit plötzlich
fallen, den ſie drei Jahrtauſende nachher eben
ſo plötzlich wieder aufnimmt, verſenkt in Kalabrien
die Künſte und Sitten des achtzehnten Jahr¬
hunderts, um ſie vielleicht im dreiſſigſten dem
verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt
viele Menſchenalter lang geſund Nomadenhorden
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[160/0168] tung ſeine Wirkung erfüllt habe, dürfen Sie mir nicht antworten. Wenn der Einfluß in dieſe Welt die ganze Beſtimmung des Menſchen erſchöpft, ſo muß ſein Daſeyn zugleich mit ſeiner Wirkung auf¬ hören. Ich verweiſe Sie an das ſprechende Beiſpiel der phyſiſchen Natur, von der Sie mir doch ein¬ räumen müſſen, daß ſie nur für die Zeitlichkeit arbeite. Wie viele Keime und Embryonen, die ſie mit ſo viel Kunſt und Sorgfalt zum künftigen Leben zuſammenſezte, werden wieder in das Ele¬ mentenreich aufgelöſ't, ohne je zur Entwicklung zu gedeihen. — Warum ſezte ſie ſie zuſammen? In jedem Menſchenpaare ſchläft, wie in dem erſten, ein ganzes Menſchengeſchlecht, warum ließ ſie aus ſo viel Millionen nur ein einziges werden? So ge¬ wiß ſie auch dieſe verderbenden Keime verarbeitet, ſo gewiß werden auch moraliſche Weſen, bei de¬ nen ſie einen höhern Zweck zu verlaſſen ſchien, frü¬ her oder ſpäter in denſelbigen eintreten. Ergrün¬ den zu wollen, wie ſie eine einzelne Wirkung durch die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindiſche Anmaßung verrathen. Oft, ſehen wir, läßt ſie den Faden einer That, einer Begebenheit plötzlich fallen, den ſie drei Jahrtauſende nachher eben ſo plötzlich wieder aufnimmt, verſenkt in Kalabrien die Künſte und Sitten des achtzehnten Jahr¬ hunderts, um ſie vielleicht im dreiſſigſten dem verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt viele Menſchenalter lang geſund Nomadenhorden auf den tarlariſchen Steppen, um ſie einſt dem ermat¬

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/168>, abgerufen am 27.04.2024.