Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

Bild:
<< vorherige Seite

und sentimentalische Dichter.
nicht als ein Objekt für die Einbildungskraft an, so ist
er eben so wenig Ueberspannung; denn das bloße Denken
ist grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch
keine überschreiten. Ueberspannt kann also nur dasjenige
genannt werden, was zwar nicht die logische aber die
sinnliche Wahrheit verletzt, und auf diese doch Anspruch
macht. Wenn daher ein Dichter den unglücklichen Ein-
fall hat, Naturen, die schlechthin übermenschlich
sind, und auch nicht anders vorgestellt werden dürfen,
zum Stoff seiner Schilderung zu erwählen, so kann er
sich vor dem Ueberspannten nur dadurch sicher stellen, daß
er das Poetische aufgiebt und es gar nicht einmal unter-
nimmt, seinen Gegenstand durch die Einbildungskraft
ausführen zu lassen. Denn thäte er dieses, so würde
entweder diese ihre Grenzen auf den Gegenstand übertra-
gen, und aus einem absoluten Objekt ein beschränktes
menschliches machen (was z. B. alle griechischen Gott-
heiten sind und auch seyn sollen); oder der Gegenstand
würde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h.
er würde sie aufheben, worinn eben das Ueberspannte
besteht.

Man muß die überspannte Empfindung von dem
Ueberspannten in der Darstellung unterscheiden; nur von
der ersten ist hier die Rede. Das Objekt der Empfin-
dung kann unnatürlich seyn, aber sie selbst ist Natur,
und muß daher auch die Sprache derselben führen. Wenn
also das Ueberspannte in der Empfindung aus Wärme
des Herzens und einer wahrhaft dichterischen Anlage

und ſentimentaliſche Dichter.
nicht als ein Objekt fuͤr die Einbildungskraft an, ſo iſt
er eben ſo wenig Ueberſpannung; denn das bloße Denken
iſt grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch
keine uͤberſchreiten. Ueberſpannt kann alſo nur dasjenige
genannt werden, was zwar nicht die logiſche aber die
ſinnliche Wahrheit verletzt, und auf dieſe doch Anſpruch
macht. Wenn daher ein Dichter den ungluͤcklichen Ein-
fall hat, Naturen, die ſchlechthin uͤbermenſchlich
ſind, und auch nicht anders vorgeſtellt werden duͤrfen,
zum Stoff ſeiner Schilderung zu erwaͤhlen, ſo kann er
ſich vor dem Ueberſpannten nur dadurch ſicher ſtellen, daß
er das Poetiſche aufgiebt und es gar nicht einmal unter-
nimmt, ſeinen Gegenſtand durch die Einbildungskraft
ausfuͤhren zu laſſen. Denn thaͤte er dieſes, ſo wuͤrde
entweder dieſe ihre Grenzen auf den Gegenſtand uͤbertra-
gen, und aus einem abſoluten Objekt ein beſchraͤnktes
menſchliches machen (was z. B. alle griechiſchen Gott-
heiten ſind und auch ſeyn ſollen); oder der Gegenſtand
wuͤrde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h.
er wuͤrde ſie aufheben, worinn eben das Ueberſpannte
beſteht.

Man muß die uͤberſpannte Empfindung von dem
Ueberſpannten in der Darſtellung unterſcheiden; nur von
der erſten iſt hier die Rede. Das Objekt der Empfin-
dung kann unnatuͤrlich ſeyn, aber ſie ſelbſt iſt Natur,
und muß daher auch die Sprache derſelben fuͤhren. Wenn
alſo das Ueberſpannte in der Empfindung aus Waͤrme
des Herzens und einer wahrhaft dichteriſchen Anlage

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="91"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">und &#x017F;entimentali&#x017F;che Dichter</hi>.</fw><lb/>
nicht als ein Objekt fu&#x0364;r die Einbildungskraft an, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
er eben &#x017F;o wenig Ueber&#x017F;pannung; denn das bloße Denken<lb/>
i&#x017F;t grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch<lb/>
keine u&#x0364;ber&#x017F;chreiten. Ueber&#x017F;pannt kann al&#x017F;o nur dasjenige<lb/>
genannt werden, was zwar nicht die logi&#x017F;che aber die<lb/>
&#x017F;innliche Wahrheit verletzt, und auf die&#x017F;e doch An&#x017F;pruch<lb/>
macht. Wenn daher ein Dichter den unglu&#x0364;cklichen Ein-<lb/>
fall hat, Naturen, die &#x017F;chlechthin <hi rendition="#g">u&#x0364;bermen&#x017F;chlich</hi><lb/>
&#x017F;ind, und auch nicht anders vorge&#x017F;tellt werden <hi rendition="#g">du&#x0364;rfen,</hi><lb/>
zum Stoff &#x017F;einer Schilderung zu erwa&#x0364;hlen, &#x017F;o kann er<lb/>
&#x017F;ich vor dem Ueber&#x017F;pannten nur dadurch &#x017F;icher &#x017F;tellen, daß<lb/>
er das Poeti&#x017F;che aufgiebt und es gar nicht einmal unter-<lb/>
nimmt, &#x017F;einen Gegen&#x017F;tand durch die Einbildungskraft<lb/>
ausfu&#x0364;hren zu la&#x017F;&#x017F;en. Denn tha&#x0364;te er die&#x017F;es, &#x017F;o wu&#x0364;rde<lb/>
entweder die&#x017F;e ihre Grenzen auf den Gegen&#x017F;tand u&#x0364;bertra-<lb/>
gen, und aus einem ab&#x017F;oluten Objekt ein be&#x017F;chra&#x0364;nktes<lb/><hi rendition="#g">men&#x017F;chliches</hi> machen (was z. B. alle griechi&#x017F;chen Gott-<lb/>
heiten &#x017F;ind und auch &#x017F;eyn &#x017F;ollen); oder der Gegen&#x017F;tand<lb/>
wu&#x0364;rde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h.<lb/>
er wu&#x0364;rde &#x017F;ie aufheben, worinn eben das Ueber&#x017F;pannte<lb/>
be&#x017F;teht.</p><lb/>
        <p>Man muß die u&#x0364;ber&#x017F;pannte Empfindung von dem<lb/>
Ueber&#x017F;pannten in der Dar&#x017F;tellung unter&#x017F;cheiden; nur von<lb/>
der er&#x017F;ten i&#x017F;t hier die Rede. Das Objekt der Empfin-<lb/>
dung kann unnatu&#x0364;rlich &#x017F;eyn, aber &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t Natur,<lb/>
und muß daher auch die Sprache der&#x017F;elben fu&#x0364;hren. Wenn<lb/>
al&#x017F;o das Ueber&#x017F;pannte in der Empfindung aus Wa&#x0364;rme<lb/>
des Herzens und einer wahrhaft dichteri&#x017F;chen Anlage<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0026] und ſentimentaliſche Dichter. nicht als ein Objekt fuͤr die Einbildungskraft an, ſo iſt er eben ſo wenig Ueberſpannung; denn das bloße Denken iſt grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch keine uͤberſchreiten. Ueberſpannt kann alſo nur dasjenige genannt werden, was zwar nicht die logiſche aber die ſinnliche Wahrheit verletzt, und auf dieſe doch Anſpruch macht. Wenn daher ein Dichter den ungluͤcklichen Ein- fall hat, Naturen, die ſchlechthin uͤbermenſchlich ſind, und auch nicht anders vorgeſtellt werden duͤrfen, zum Stoff ſeiner Schilderung zu erwaͤhlen, ſo kann er ſich vor dem Ueberſpannten nur dadurch ſicher ſtellen, daß er das Poetiſche aufgiebt und es gar nicht einmal unter- nimmt, ſeinen Gegenſtand durch die Einbildungskraft ausfuͤhren zu laſſen. Denn thaͤte er dieſes, ſo wuͤrde entweder dieſe ihre Grenzen auf den Gegenſtand uͤbertra- gen, und aus einem abſoluten Objekt ein beſchraͤnktes menſchliches machen (was z. B. alle griechiſchen Gott- heiten ſind und auch ſeyn ſollen); oder der Gegenſtand wuͤrde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h. er wuͤrde ſie aufheben, worinn eben das Ueberſpannte beſteht. Man muß die uͤberſpannte Empfindung von dem Ueberſpannten in der Darſtellung unterſcheiden; nur von der erſten iſt hier die Rede. Das Objekt der Empfin- dung kann unnatuͤrlich ſeyn, aber ſie ſelbſt iſt Natur, und muß daher auch die Sprache derſelben fuͤhren. Wenn alſo das Ueberſpannte in der Empfindung aus Waͤrme des Herzens und einer wahrhaft dichteriſchen Anlage

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/26
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/26>, abgerufen am 27.04.2024.