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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.

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VII. Ueber naive
ist der Fall im gemeinen Leben. Je tiefer sie zu diesem
herabsteigen, desto mehr verlieren sie von ihrem generischen
Charakter der sie einander näher bringt, biß zuletzt in
ihren Karrikaturen nur der Artcharakter übrig bleibt, der
sie einander entgegen setzt.

Dieses führt mich auf einen sehr merkwürdigen psy-
chologischen Antagonism unter den Menschen in einem
sich kultivierenden Jahrhundert: einen Antagonism, der,
weil er radikal und in der innern Gemüthsform gegründet
ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen an-
richtet, als der zufällige Streit der Interessen je hervor-
bringen könnte; der dem Künstler und Dichter alle Hof-
nung benimmt, allgemein zu gefallen und zu rühren, was
doch seine Aufgabe ist, der es dem Philosophen auch
wenn er alles gethan hat, unmöglich macht, allgemein zu
überzeugen, was doch der Begriff einer Philosophie mit
sich bringt, der es endlich dem Menschen im praktischen
Leben niemals vergönnen wird, seine Handlungsweise all-
gemein gebilliget zu sehen: kurz einen Gegensatz, welcher
Schuld ist, daß kein Werk des Geistes und keine Hand-
lung des Herzens bey Einer Klasse ein entscheidendes
Glück machen kann, ohne eben dadurch bey der andern
sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen. Dieser Ge-
gensatz ist ohne Zweifel so alt, als der Anfang der Kul-
tur und dürfte vor dem Ende derselben schwerlich anders
als in einzelnen seltenen Subjekten, deren es hoffentlich
immer gab und immer geben wird, beygelegt werden;
aber obgleich zu seinen Wirkungen auch diese gehört, daß

VII. Ueber naive
iſt der Fall im gemeinen Leben. Je tiefer ſie zu dieſem
herabſteigen, deſto mehr verlieren ſie von ihrem generiſchen
Charakter der ſie einander naͤher bringt, biß zuletzt in
ihren Karrikaturen nur der Artcharakter uͤbrig bleibt, der
ſie einander entgegen ſetzt.

Dieſes fuͤhrt mich auf einen ſehr merkwuͤrdigen pſy-
chologiſchen Antagonism unter den Menſchen in einem
ſich kultivierenden Jahrhundert: einen Antagonism, der,
weil er radikal und in der innern Gemuͤthsform gegruͤndet
iſt, eine ſchlimmere Trennung unter den Menſchen an-
richtet, als der zufaͤllige Streit der Intereſſen je hervor-
bringen koͤnnte; der dem Kuͤnſtler und Dichter alle Hof-
nung benimmt, allgemein zu gefallen und zu ruͤhren, was
doch ſeine Aufgabe iſt, der es dem Philoſophen auch
wenn er alles gethan hat, unmoͤglich macht, allgemein zu
uͤberzeugen, was doch der Begriff einer Philoſophie mit
ſich bringt, der es endlich dem Menſchen im praktiſchen
Leben niemals vergoͤnnen wird, ſeine Handlungsweiſe all-
gemein gebilliget zu ſehen: kurz einen Gegenſatz, welcher
Schuld iſt, daß kein Werk des Geiſtes und keine Hand-
lung des Herzens bey Einer Klaſſe ein entſcheidendes
Gluͤck machen kann, ohne eben dadurch bey der andern
ſich einen Verdammungsſpruch zuzuziehen. Dieſer Ge-
genſatz iſt ohne Zweifel ſo alt, als der Anfang der Kul-
tur und duͤrfte vor dem Ende derſelben ſchwerlich anders
als in einzelnen ſeltenen Subjekten, deren es hoffentlich
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[104/0039] VII. Ueber naive iſt der Fall im gemeinen Leben. Je tiefer ſie zu dieſem herabſteigen, deſto mehr verlieren ſie von ihrem generiſchen Charakter der ſie einander naͤher bringt, biß zuletzt in ihren Karrikaturen nur der Artcharakter uͤbrig bleibt, der ſie einander entgegen ſetzt. Dieſes fuͤhrt mich auf einen ſehr merkwuͤrdigen pſy- chologiſchen Antagonism unter den Menſchen in einem ſich kultivierenden Jahrhundert: einen Antagonism, der, weil er radikal und in der innern Gemuͤthsform gegruͤndet iſt, eine ſchlimmere Trennung unter den Menſchen an- richtet, als der zufaͤllige Streit der Intereſſen je hervor- bringen koͤnnte; der dem Kuͤnſtler und Dichter alle Hof- nung benimmt, allgemein zu gefallen und zu ruͤhren, was doch ſeine Aufgabe iſt, der es dem Philoſophen auch wenn er alles gethan hat, unmoͤglich macht, allgemein zu uͤberzeugen, was doch der Begriff einer Philoſophie mit ſich bringt, der es endlich dem Menſchen im praktiſchen Leben niemals vergoͤnnen wird, ſeine Handlungsweiſe all- gemein gebilliget zu ſehen: kurz einen Gegenſatz, welcher Schuld iſt, daß kein Werk des Geiſtes und keine Hand- lung des Herzens bey Einer Klaſſe ein entſcheidendes Gluͤck machen kann, ohne eben dadurch bey der andern ſich einen Verdammungsſpruch zuzuziehen. Dieſer Ge- genſatz iſt ohne Zweifel ſo alt, als der Anfang der Kul- tur und duͤrfte vor dem Ende derſelben ſchwerlich anders als in einzelnen ſeltenen Subjekten, deren es hoffentlich immer gab und immer geben wird, beygelegt werden; aber obgleich zu ſeinen Wirkungen auch dieſe gehoͤrt, daß

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/39>, abgerufen am 27.04.2024.