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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Es könnte seltsam erscheinen, daß der Mensch von den frühesten
Zeiten an über nichts so gern nachgedacht, nichts so ausführlich ent-
wickelt und über nichts so weitläufig gelehrt und geschrieben hat als
über das, wovon wir Menschen nichts wissen und nichts wissen kön-
nen. Gleichwohl ist die Sache sehr natürlich in der menschlichen
Trägheit einerseits und Eitelkeit andererseits begründet. Sobald die
erste Stufe sinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin-
lebens überwunden ist, sobald der Mensch überhaupt anfängt an gei-
stiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr
zu wissen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu diesem
Ziele, umfassende Kenntnisse und anhaltendes, ernstes, begriffsmäßiges
Nachdenken ist aber gar zu beschwerlich und deshalb nicht Jedermanns
Sache, und statt auf diesem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu-
streben, wendet der Mensch lieber seine Phantasie, ein Vermögen,
dessen Thätigkeit wegen seiner halb sinnlichen Natur scheinbar einen
ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die
unbequeme Thatsache und die sicher absprechende Logik den Ansichten
in den Weg treten können, wo die Phantasie, die nicht dem Urtheils-
spruch der Wahrheit unterworfen ist, in dem Einen eben so berechtigt
ist als im Andern und also von diesem keine Widerlegung zu fürchten
hat, und wo man, die Begründung der aufgestellten Träume klüglich
ganz überspringend, gleich sich hinter die uneinnehmbare Verschan-
zung zurückzieht: Beweise mir das Gegentheil! Ich will hier
nicht auf die verschiedenartigen religiösen Phantasmagorien, auf die
Untersuchungen über das, was nach dem Tode seyn wird, und der-

Es könnte ſeltſam erſcheinen, daß der Menſch von den früheſten
Zeiten an über nichts ſo gern nachgedacht, nichts ſo ausführlich ent-
wickelt und über nichts ſo weitläufig gelehrt und geſchrieben hat als
über das, wovon wir Menſchen nichts wiſſen und nichts wiſſen kön-
nen. Gleichwohl iſt die Sache ſehr natürlich in der menſchlichen
Trägheit einerſeits und Eitelkeit andererſeits begründet. Sobald die
erſte Stufe ſinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin-
lebens überwunden iſt, ſobald der Menſch überhaupt anfängt an gei-
ſtiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr
zu wiſſen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu dieſem
Ziele, umfaſſende Kenntniſſe und anhaltendes, ernſtes, begriffsmäßiges
Nachdenken iſt aber gar zu beſchwerlich und deshalb nicht Jedermanns
Sache, und ſtatt auf dieſem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu-
ſtreben, wendet der Menſch lieber ſeine Phantaſie, ein Vermögen,
deſſen Thätigkeit wegen ſeiner halb ſinnlichen Natur ſcheinbar einen
ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die
unbequeme Thatſache und die ſicher abſprechende Logik den Anſichten
in den Weg treten können, wo die Phantaſie, die nicht dem Urtheils-
ſpruch der Wahrheit unterworfen iſt, in dem Einen eben ſo berechtigt
iſt als im Andern und alſo von dieſem keine Widerlegung zu fürchten
hat, und wo man, die Begründung der aufgeſtellten Träume klüglich
ganz überſpringend, gleich ſich hinter die uneinnehmbare Verſchan-
zung zurückzieht: Beweiſe mir das Gegentheil! Ich will hier
nicht auf die verſchiedenartigen religiöſen Phantasmagorien, auf die
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[[251]/0267] Es könnte ſeltſam erſcheinen, daß der Menſch von den früheſten Zeiten an über nichts ſo gern nachgedacht, nichts ſo ausführlich ent- wickelt und über nichts ſo weitläufig gelehrt und geſchrieben hat als über das, wovon wir Menſchen nichts wiſſen und nichts wiſſen kön- nen. Gleichwohl iſt die Sache ſehr natürlich in der menſchlichen Trägheit einerſeits und Eitelkeit andererſeits begründet. Sobald die erſte Stufe ſinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin- lebens überwunden iſt, ſobald der Menſch überhaupt anfängt an gei- ſtiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr zu wiſſen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu dieſem Ziele, umfaſſende Kenntniſſe und anhaltendes, ernſtes, begriffsmäßiges Nachdenken iſt aber gar zu beſchwerlich und deshalb nicht Jedermanns Sache, und ſtatt auf dieſem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu- ſtreben, wendet der Menſch lieber ſeine Phantaſie, ein Vermögen, deſſen Thätigkeit wegen ſeiner halb ſinnlichen Natur ſcheinbar einen ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die unbequeme Thatſache und die ſicher abſprechende Logik den Anſichten in den Weg treten können, wo die Phantaſie, die nicht dem Urtheils- ſpruch der Wahrheit unterworfen iſt, in dem Einen eben ſo berechtigt iſt als im Andern und alſo von dieſem keine Widerlegung zu fürchten hat, und wo man, die Begründung der aufgeſtellten Träume klüglich ganz überſpringend, gleich ſich hinter die uneinnehmbare Verſchan- zung zurückzieht: Beweiſe mir das Gegentheil! Ich will hier nicht auf die verſchiedenartigen religiöſen Phantasmagorien, auf die Unterſuchungen über das, was nach dem Tode ſeyn wird, und der-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. [251]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/267>, abgerufen am 27.04.2024.