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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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wo das religiöse Bewußtsein noch nicht erwacht ist. Je mehr es
erwacht und ein allgegenwärtiges wird, desto mehr ist der Mensch
selbst erwacht. Nun wird es aber von Allen als ein allgemeines
besessen und empfunden. Man kann sich aber darüber nur durch
die Sprache verständigen. Wir sehen, daß der Mensch nur in
dem Grade über sein höchstes Interesse klar und gewiß wird, in
welchem er den Verkehr durch die Sprache kennt. Alles also,
was normaler Ausdruck des Religiösen, irgendwie heilige Schrift
ist, muß dazu beitragen, diese Aufgabe zu einer allgemeinen zu
machen. Wir finden freilich Religionen, die heilige Schriften ha-
ben, ohne daß in der Masse das Interesse dafür allgemein wäre.
Selbst in der christlichen Kirche macht die Römischkatholische Par-
thei eine Ausnahme. Wenn auch die hermeneutische Aufgabe in
Beziehung auf die neutestam. Schrift verglichen mit der Totali-
tät des Objects der ganzen Aufgabe der christlichen Kirche sehr
untergeordnet erscheint, auch manches wol nicht zur vollen Lö-
sung gebracht werden kann wegen der Eigenthümlichkeit der Sprache
und der Masse des Materials, so ist es doch auf der andern
Seite das allgemeinste Interesse, welches an der hermeneutischen
Aufgabe hängt, und wir werden mit Sicherheit sagen können,
wenn das allgemein religiöse Interesse fallen sollte, würde auch
das hermeneutische verloren gehen. Unsere Ansicht von dem Ver-
hältniß des Christenthums zum ganzen menschlichen Geschlecht
und die geistige Klarheit, womit sich dieß in der evangelischen
Kirche entwickelt hat, leistet Gewähr dafür. Freilich kann die
Aufgabe auf diesem Gebiete nicht so vollkommen gelöst werden,
wie auf dem Gebiete der classischen Litteratur. Allein unser In-
teresse darf deßhalb nicht geringer sein. Wenn wir es auch nie
zum völligen Verstehen jeder persönlichen Eigenthümlichkeit der
neutest. Schriftsteller bringen können, so ist doch das Höchste der
Aufgabe möglich, nemlich das gemeinsame Leben in ihnen, das
Sein und den Geist Christi, immer vollkommener zu erfassen.


wo das religioͤſe Bewußtſein noch nicht erwacht iſt. Je mehr es
erwacht und ein allgegenwaͤrtiges wird, deſto mehr iſt der Menſch
ſelbſt erwacht. Nun wird es aber von Allen als ein allgemeines
beſeſſen und empfunden. Man kann ſich aber daruͤber nur durch
die Sprache verſtaͤndigen. Wir ſehen, daß der Menſch nur in
dem Grade uͤber ſein hoͤchſtes Intereſſe klar und gewiß wird, in
welchem er den Verkehr durch die Sprache kennt. Alles alſo,
was normaler Ausdruck des Religioͤſen, irgendwie heilige Schrift
iſt, muß dazu beitragen, dieſe Aufgabe zu einer allgemeinen zu
machen. Wir finden freilich Religionen, die heilige Schriften ha-
ben, ohne daß in der Maſſe das Intereſſe dafuͤr allgemein waͤre.
Selbſt in der chriſtlichen Kirche macht die Roͤmiſchkatholiſche Par-
thei eine Ausnahme. Wenn auch die hermeneutiſche Aufgabe in
Beziehung auf die neuteſtam. Schrift verglichen mit der Totali-
taͤt des Objects der ganzen Aufgabe der chriſtlichen Kirche ſehr
untergeordnet erſcheint, auch manches wol nicht zur vollen Loͤ-
ſung gebracht werden kann wegen der Eigenthuͤmlichkeit der Sprache
und der Maſſe des Materials, ſo iſt es doch auf der andern
Seite das allgemeinſte Intereſſe, welches an der hermeneutiſchen
Aufgabe haͤngt, und wir werden mit Sicherheit ſagen koͤnnen,
wenn das allgemein religioͤſe Intereſſe fallen ſollte, wuͤrde auch
das hermeneutiſche verloren gehen. Unſere Anſicht von dem Ver-
haͤltniß des Chriſtenthums zum ganzen menſchlichen Geſchlecht
und die geiſtige Klarheit, womit ſich dieß in der evangeliſchen
Kirche entwickelt hat, leiſtet Gewaͤhr dafuͤr. Freilich kann die
Aufgabe auf dieſem Gebiete nicht ſo vollkommen geloͤſt werden,
wie auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur. Allein unſer In-
tereſſe darf deßhalb nicht geringer ſein. Wenn wir es auch nie
zum voͤlligen Verſtehen jeder perſoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeit der
neuteſt. Schriftſteller bringen koͤnnen, ſo iſt doch das Hoͤchſte der
Aufgabe moͤglich, nemlich das gemeinſame Leben in ihnen, das
Sein und den Geiſt Chriſti, immer vollkommener zu erfaſſen.


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[262/0286] wo das religioͤſe Bewußtſein noch nicht erwacht iſt. Je mehr es erwacht und ein allgegenwaͤrtiges wird, deſto mehr iſt der Menſch ſelbſt erwacht. Nun wird es aber von Allen als ein allgemeines beſeſſen und empfunden. Man kann ſich aber daruͤber nur durch die Sprache verſtaͤndigen. Wir ſehen, daß der Menſch nur in dem Grade uͤber ſein hoͤchſtes Intereſſe klar und gewiß wird, in welchem er den Verkehr durch die Sprache kennt. Alles alſo, was normaler Ausdruck des Religioͤſen, irgendwie heilige Schrift iſt, muß dazu beitragen, dieſe Aufgabe zu einer allgemeinen zu machen. Wir finden freilich Religionen, die heilige Schriften ha- ben, ohne daß in der Maſſe das Intereſſe dafuͤr allgemein waͤre. Selbſt in der chriſtlichen Kirche macht die Roͤmiſchkatholiſche Par- thei eine Ausnahme. Wenn auch die hermeneutiſche Aufgabe in Beziehung auf die neuteſtam. Schrift verglichen mit der Totali- taͤt des Objects der ganzen Aufgabe der chriſtlichen Kirche ſehr untergeordnet erſcheint, auch manches wol nicht zur vollen Loͤ- ſung gebracht werden kann wegen der Eigenthuͤmlichkeit der Sprache und der Maſſe des Materials, ſo iſt es doch auf der andern Seite das allgemeinſte Intereſſe, welches an der hermeneutiſchen Aufgabe haͤngt, und wir werden mit Sicherheit ſagen koͤnnen, wenn das allgemein religioͤſe Intereſſe fallen ſollte, wuͤrde auch das hermeneutiſche verloren gehen. Unſere Anſicht von dem Ver- haͤltniß des Chriſtenthums zum ganzen menſchlichen Geſchlecht und die geiſtige Klarheit, womit ſich dieß in der evangeliſchen Kirche entwickelt hat, leiſtet Gewaͤhr dafuͤr. Freilich kann die Aufgabe auf dieſem Gebiete nicht ſo vollkommen geloͤſt werden, wie auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur. Allein unſer In- tereſſe darf deßhalb nicht geringer ſein. Wenn wir es auch nie zum voͤlligen Verſtehen jeder perſoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeit der neuteſt. Schriftſteller bringen koͤnnen, ſo iſt doch das Hoͤchſte der Aufgabe moͤglich, nemlich das gemeinſame Leben in ihnen, das Sein und den Geiſt Chriſti, immer vollkommener zu erfaſſen.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/286>, abgerufen am 28.04.2024.