kann aber auch erst später entstehen bei weiterem Verfolgen der Rede.
Sezen wir den Fall, daß einem Autor eine Schrift fälschlich beigelegt ist, so können sie viele lesen und merken nichts und haben keinen Verdacht. Es kann ein Gegenstand sein, den der genannte Verfasser könnte behandelt haben, auch die Behandlungsweise und Schreibart entsprechen, aber es kommen Umstände vor, die der Verfasser nicht gewußt haben kann. Es kann also die Schrift nicht von ihm geschrieben sein, außer wenn Verdacht ist, daß die betreffende Stelle nicht von dem Verfasser herrührt, also in- terpolirt ist. Allein jene Umstände werden von vielen Lesern übersehen. So ist also, um den Verdacht zu bekommen, eine gewisse Qualification des Lesers erforderlich. Kann nun das kri- tische Verfahren nicht entstehen, wenn gar kein Verdacht da ist, so könnte man die Fälle oder Aufgaben so theilen, je nachdem der Verdacht entstehen muß oder nicht. Dieß könnte Anlaß ge- ben zu jener Unterscheidung in die höhere und niedere Kritik. --
Gehen wir die Fälle genauer durch. Wenn z. B. durch ein Versehen des Auges eine Auslassung entstanden ist, so daß der Saz zusammenhangslos und unverständlich wird, so bekommt jeder leicht Verdacht. Ist durch ein mechanisches Versehen eine Sprachwidrigkeit entstanden, so kann der Fehler oft augenscheinlich sein, oft aber gehört viel Sprachkenntniß dazu, um den Fehler zu entdecken, zumal wenn die verschiedenen Perioden der Sprache in Betracht kommen. Will man danach höhere und niedere Kritik unterscheiden, so darf man nur nicht auf den Umfang sehen. Eine Kleinigkeit kann eben so viel Sprachkenntniß erfordern, als die Unächtheit einer ganzen Schrift zu erkennen.
Man könnte sagen, der, dem kein Verdacht entsteht, wo er entstehen sollte, sei ein unkritischer Mann, und im Gegentheil der ein kritischer, der sich auf den Verdacht versteht. Allein wollte man zur Kritik rechnen, darüber Anweisungen zu geben, wie man ein kritischer Mann werde, so würde man zu weit gehen, denn es concurriren dabei verschiedene Naturanlagen und Grade
kann aber auch erſt ſpaͤter entſtehen bei weiterem Verfolgen der Rede.
Sezen wir den Fall, daß einem Autor eine Schrift faͤlſchlich beigelegt iſt, ſo koͤnnen ſie viele leſen und merken nichts und haben keinen Verdacht. Es kann ein Gegenſtand ſein, den der genannte Verfaſſer koͤnnte behandelt haben, auch die Behandlungsweiſe und Schreibart entſprechen, aber es kommen Umſtaͤnde vor, die der Verfaſſer nicht gewußt haben kann. Es kann alſo die Schrift nicht von ihm geſchrieben ſein, außer wenn Verdacht iſt, daß die betreffende Stelle nicht von dem Verfaſſer herruͤhrt, alſo in- terpolirt iſt. Allein jene Umſtaͤnde werden von vielen Leſern uͤberſehen. So iſt alſo, um den Verdacht zu bekommen, eine gewiſſe Qualification des Leſers erforderlich. Kann nun das kri- tiſche Verfahren nicht entſtehen, wenn gar kein Verdacht da iſt, ſo koͤnnte man die Faͤlle oder Aufgaben ſo theilen, je nachdem der Verdacht entſtehen muß oder nicht. Dieß koͤnnte Anlaß ge- ben zu jener Unterſcheidung in die hoͤhere und niedere Kritik. —
Gehen wir die Faͤlle genauer durch. Wenn z. B. durch ein Verſehen des Auges eine Auslaſſung entſtanden iſt, ſo daß der Saz zuſammenhangslos und unverſtaͤndlich wird, ſo bekommt jeder leicht Verdacht. Iſt durch ein mechaniſches Verſehen eine Sprachwidrigkeit entſtanden, ſo kann der Fehler oft augenſcheinlich ſein, oft aber gehoͤrt viel Sprachkenntniß dazu, um den Fehler zu entdecken, zumal wenn die verſchiedenen Perioden der Sprache in Betracht kommen. Will man danach hoͤhere und niedere Kritik unterſcheiden, ſo darf man nur nicht auf den Umfang ſehen. Eine Kleinigkeit kann eben ſo viel Sprachkenntniß erfordern, als die Unaͤchtheit einer ganzen Schrift zu erkennen.
Man koͤnnte ſagen, der, dem kein Verdacht entſteht, wo er entſtehen ſollte, ſei ein unkritiſcher Mann, und im Gegentheil der ein kritiſcher, der ſich auf den Verdacht verſteht. Allein wollte man zur Kritik rechnen, daruͤber Anweiſungen zu geben, wie man ein kritiſcher Mann werde, ſo wuͤrde man zu weit gehen, denn es concurriren dabei verſchiedene Naturanlagen und Grade
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kann aber auch erſt ſpaͤter entſtehen bei weiterem Verfolgen
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Sezen wir den Fall, daß einem Autor eine Schrift faͤlſchlich
beigelegt iſt, ſo koͤnnen ſie viele leſen und merken nichts und haben
keinen Verdacht. Es kann ein Gegenſtand ſein, den der genannte
Verfaſſer koͤnnte behandelt haben, auch die Behandlungsweiſe
und Schreibart entſprechen, aber es kommen Umſtaͤnde vor, die
der Verfaſſer nicht gewußt haben kann. Es kann alſo die Schrift
nicht von ihm geſchrieben ſein, außer wenn Verdacht iſt, daß
die betreffende Stelle nicht von dem Verfaſſer herruͤhrt, alſo in-
terpolirt iſt. Allein jene Umſtaͤnde werden von vielen Leſern
uͤberſehen. So iſt alſo, um den Verdacht zu bekommen, eine
gewiſſe Qualification des Leſers erforderlich. Kann nun das kri-
tiſche Verfahren nicht entſtehen, wenn gar kein Verdacht da iſt,
ſo koͤnnte man die Faͤlle oder Aufgaben ſo theilen, je nachdem
der Verdacht entſtehen muß oder nicht. Dieß koͤnnte Anlaß ge-
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Gehen wir die Faͤlle genauer durch. Wenn z. B. durch ein
Verſehen des Auges eine Auslaſſung entſtanden iſt, ſo daß der
Saz zuſammenhangslos und unverſtaͤndlich wird, ſo bekommt
jeder leicht Verdacht. Iſt durch ein mechaniſches Verſehen eine
Sprachwidrigkeit entſtanden, ſo kann der Fehler oft augenſcheinlich
ſein, oft aber gehoͤrt viel Sprachkenntniß dazu, um den Fehler zu
entdecken, zumal wenn die verſchiedenen Perioden der Sprache in
Betracht kommen. Will man danach hoͤhere und niedere Kritik
unterſcheiden, ſo darf man nur nicht auf den Umfang ſehen.
Eine Kleinigkeit kann eben ſo viel Sprachkenntniß erfordern, als
die Unaͤchtheit einer ganzen Schrift zu erkennen.
Man koͤnnte ſagen, der, dem kein Verdacht entſteht, wo er
entſtehen ſollte, ſei ein unkritiſcher Mann, und im Gegentheil der
ein kritiſcher, der ſich auf den Verdacht verſteht. Allein wollte
man zur Kritik rechnen, daruͤber Anweiſungen zu geben, wie
man ein kritiſcher Mann werde, ſo wuͤrde man zu weit gehen,
denn es concurriren dabei verſchiedene Naturanlagen und Grade
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/306>, abgerufen am 01.11.2024.
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