andern in der Art abweichen, daß sich die Abweichung aus dem Zusammensein mit dem Lateinischen erklärt, müssen wir uns an die andern halten, die dann bestimmt den Vorzug verdienen. Was aber in beiden Classen übereinstimmt, ist das am meisten Verbreitete in geographischer Hinsicht. Diesem geben wir den Vorzug, damit ist aber noch nicht gesagt, daß eine von beiden Classificationen einen entschiedenen Vorzug habe.
Man hat nun aber noch andere Classificationen in Vorschlag gebracht. Findet man, daß die Handschriften von der einen wie der andern Classification in gewissen Lesearten übereinstimmen und abweichen, und stellt man sich das Ähnliche und Verschie- dene in gewissen Massen zusammen, so entsteht eine gewisse Phy- siognomie. Darnach hat man die Handschriften familienweise classificirt. Diese Familien werden dann auch Recensionen genannt, was freilich etwas anderes ist, denn Recension ist absichtliche Con- stitution eines Textes nach gewissen Maximen. Hat man nun Grund dazu, solche Recensionen anzunehmen? Wir haben von solchen eigentlich kritischen Bemühungen nicht soviel historische Nachricht, daß wir als Thatsache feststellen könnten, daß Hand- schriften in Masse darnach gemacht worden wären. Wir finden freilich sehr zeitig kritische Vergleichungen, Verbesserungen aus Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es ist nicht nach- weislich, daß nach seinen Verbesserungen Handschriften angefer- tigt worden sind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti- scher Thätigkeit haben, da ist an Recension gar nicht zu denken. Allein die Ansicht erhält von einer andern Seite Vorschub.
Fragen wir, wie die Vervielfältigung vor sich gegangen, so fehlt es uns zwar an bestimmten Nachrichten, aber es wird wahr- scheinlich, daß es damit zugegangen ist, wie mit der Sammlung der neutest. Bücher. Es fanden sich in den sogenannten Metro- polen Abschriften mehrerer Bücher des N. T., die man dann zu- sammenfügte. Eben an solchen Centralpunkten der Kirche, wie Constantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Christen aus verschie- denen Gegenden in Geschäften zusammen und gaben sich gegen-
andern in der Art abweichen, daß ſich die Abweichung aus dem Zuſammenſein mit dem Lateiniſchen erklaͤrt, muͤſſen wir uns an die andern halten, die dann beſtimmt den Vorzug verdienen. Was aber in beiden Claſſen uͤbereinſtimmt, iſt das am meiſten Verbreitete in geographiſcher Hinſicht. Dieſem geben wir den Vorzug, damit iſt aber noch nicht geſagt, daß eine von beiden Claſſificationen einen entſchiedenen Vorzug habe.
Man hat nun aber noch andere Claſſificationen in Vorſchlag gebracht. Findet man, daß die Handſchriften von der einen wie der andern Claſſification in gewiſſen Leſearten uͤbereinſtimmen und abweichen, und ſtellt man ſich das Ähnliche und Verſchie- dene in gewiſſen Maſſen zuſammen, ſo entſteht eine gewiſſe Phy- ſiognomie. Darnach hat man die Handſchriften familienweiſe claſſificirt. Dieſe Familien werden dann auch Recenſionen genannt, was freilich etwas anderes iſt, denn Recenſion iſt abſichtliche Con- ſtitution eines Textes nach gewiſſen Maximen. Hat man nun Grund dazu, ſolche Recenſionen anzunehmen? Wir haben von ſolchen eigentlich kritiſchen Bemuͤhungen nicht ſoviel hiſtoriſche Nachricht, daß wir als Thatſache feſtſtellen koͤnnten, daß Hand- ſchriften in Maſſe darnach gemacht worden waͤren. Wir finden freilich ſehr zeitig kritiſche Vergleichungen, Verbeſſerungen aus Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es iſt nicht nach- weislich, daß nach ſeinen Verbeſſerungen Handſchriften angefer- tigt worden ſind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti- ſcher Thaͤtigkeit haben, da iſt an Recenſion gar nicht zu denken. Allein die Anſicht erhaͤlt von einer andern Seite Vorſchub.
Fragen wir, wie die Vervielfaͤltigung vor ſich gegangen, ſo fehlt es uns zwar an beſtimmten Nachrichten, aber es wird wahr- ſcheinlich, daß es damit zugegangen iſt, wie mit der Sammlung der neuteſt. Buͤcher. Es fanden ſich in den ſogenannten Metro- polen Abſchriften mehrerer Buͤcher des N. T., die man dann zu- ſammenfuͤgte. Eben an ſolchen Centralpunkten der Kirche, wie Conſtantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Chriſten aus verſchie- denen Gegenden in Geſchaͤften zuſammen und gaben ſich gegen-
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andern in der Art abweichen, daß ſich die Abweichung aus dem
Zuſammenſein mit dem Lateiniſchen erklaͤrt, muͤſſen wir uns an
die andern halten, die dann beſtimmt den Vorzug verdienen.
Was aber in beiden Claſſen uͤbereinſtimmt, iſt das am meiſten
Verbreitete in geographiſcher Hinſicht. Dieſem geben wir den
Vorzug, damit iſt aber noch nicht geſagt, daß eine von beiden
Claſſificationen einen entſchiedenen Vorzug habe.
Man hat nun aber noch andere Claſſificationen in Vorſchlag
gebracht. Findet man, daß die Handſchriften von der einen wie
der andern Claſſification in gewiſſen Leſearten uͤbereinſtimmen
und abweichen, und ſtellt man ſich das Ähnliche und Verſchie-
dene in gewiſſen Maſſen zuſammen, ſo entſteht eine gewiſſe Phy-
ſiognomie. Darnach hat man die Handſchriften familienweiſe
claſſificirt. Dieſe Familien werden dann auch Recenſionen genannt,
was freilich etwas anderes iſt, denn Recenſion iſt abſichtliche Con-
ſtitution eines Textes nach gewiſſen Maximen. Hat man nun
Grund dazu, ſolche Recenſionen anzunehmen? Wir haben von
ſolchen eigentlich kritiſchen Bemuͤhungen nicht ſoviel hiſtoriſche
Nachricht, daß wir als Thatſache feſtſtellen koͤnnten, daß Hand-
ſchriften in Maſſe darnach gemacht worden waͤren. Wir finden
freilich ſehr zeitig kritiſche Vergleichungen, Verbeſſerungen aus
Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es iſt nicht nach-
weislich, daß nach ſeinen Verbeſſerungen Handſchriften angefer-
tigt worden ſind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti-
ſcher Thaͤtigkeit haben, da iſt an Recenſion gar nicht zu denken.
Allein die Anſicht erhaͤlt von einer andern Seite Vorſchub.
Fragen wir, wie die Vervielfaͤltigung vor ſich gegangen, ſo
fehlt es uns zwar an beſtimmten Nachrichten, aber es wird wahr-
ſcheinlich, daß es damit zugegangen iſt, wie mit der Sammlung
der neuteſt. Buͤcher. Es fanden ſich in den ſogenannten Metro-
polen Abſchriften mehrerer Buͤcher des N. T., die man dann zu-
ſammenfuͤgte. Eben an ſolchen Centralpunkten der Kirche, wie
Conſtantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Chriſten aus verſchie-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/341>, abgerufen am 01.11.2024.
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