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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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V.
DIE MORALSYSTEME

Jahrhunderte und Jahrtausende leben so die Völker: Die Träger des
Fortschrittes sind diejenigen, welche die höheren Religionssysteme aus-
bilden, mit welchen und durch welche die bessere soziale Ordnung und
die richtigere Regulierung des Trieblebens entstand, innerhalb deren
die steigende Erkenntnis der Natur und des Menschen sich entwickeln
konnte. Diese Erkenntnis ist darauf gerichtet, das einzelne für sich
zu nehmen, es abstrahierend aus Ursachen zu erklären. Aber der Vor-
gang hierbei war von Anfang an verschieden für das Naturerkennen
und für das Menschenleben. Der Natur steht der Mensch als ein Frem-
der gegenüber; er kann hier nur langsam vordringend beobachten,
untersuchen, die ihm unbegreiflichen Ursachen verstehen. Dem Seelen-
leben, dem Menschen, der Familie, dem Staate steht unser Intellekt
als ein gleicher gegenüber, der gleichsam von innen heraus die Vor-
kommnisse miterlebend versteht, der das Ganze stets mehr oder we-
niger überschaut, es besitzt, während er nun erkennend das einzelne
analysiert. Daher das bekannte von Dilthey mit Recht betonte histo-
rische Ergebnis, daß eine gewisse Höhe der Erkenntnis auf psycholo-
gischem, ethischem, politischem Gebiet eigentlich früher erreicht
wurde, als auf dem der Natur. Wenigstens steht, was die Griechen
auf diesen Gebieten lehrten, unseren heutigen Lehren viel näher, als
unser Naturerkennen dem ihrigen.

Die ersten großen Fortschritte aller empirischen Erkenntnis fallen in
die Epoche, in welcher die überlieferten Religionssysteme ins Wanken
kommen. Veränderte Lebensbedingungen erschüttern die alten ge-
heiligten Regeln des Handelns und Zusammenlebens. Mit dem Zweifel
an den alten kosmogonischen Vorstellungen kommt das Bedürfnis nach
einer tieferen oder anderen Erklärung der Welt und nach einer an-
deren Begründung des Sollens; man will die Vorschriften der Sitte,
des Rechts und der Moral nicht mehr bloß als Gebote Gottes ver-
stehen und erläutert sehen, sondern will sie aus Zwecken und Ur-
sachen erklärt haben. Es entstehen die philosophisch-physikalischen Sy-
steme der Welterklärung und die Moralsysteme; letztere als die ersten
eigentlichen Versuche einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Men-
schen. Aber die metaphysischen Systeme der Welterklärung und die
ethischen Systeme -- in der Regel einheitlich verbunden -- sind zu-
nächst doch weit entfernt, die charakteristischen Züge der alten Reli-
gionssysteme abzustreifen. Dazu reichte die dürftige Erkenntnis, auf
denen sie ruhen, nicht hin; noch weniger duldete der praktische Zweck
das. Die griechische Ethik und die meisten späteren ethischen Systeme

V.
DIE MORALSYSTEME

Jahrhunderte und Jahrtausende leben so die Völker: Die Träger des
Fortschrittes sind diejenigen, welche die höheren Religionssysteme aus-
bilden, mit welchen und durch welche die bessere soziale Ordnung und
die richtigere Regulierung des Trieblebens entstand, innerhalb deren
die steigende Erkenntnis der Natur und des Menschen sich entwickeln
konnte. Diese Erkenntnis ist darauf gerichtet, das einzelne für sich
zu nehmen, es abstrahierend aus Ursachen zu erklären. Aber der Vor-
gang hierbei war von Anfang an verschieden für das Naturerkennen
und für das Menschenleben. Der Natur steht der Mensch als ein Frem-
der gegenüber; er kann hier nur langsam vordringend beobachten,
untersuchen, die ihm unbegreiflichen Ursachen verstehen. Dem Seelen-
leben, dem Menschen, der Familie, dem Staate steht unser Intellekt
als ein gleicher gegenüber, der gleichsam von innen heraus die Vor-
kommnisse miterlebend versteht, der das Ganze stets mehr oder we-
niger überschaut, es besitzt, während er nun erkennend das einzelne
analysiert. Daher das bekannte von Dilthey mit Recht betonte histo-
rische Ergebnis, daß eine gewisse Höhe der Erkenntnis auf psycholo-
gischem, ethischem, politischem Gebiet eigentlich früher erreicht
wurde, als auf dem der Natur. Wenigstens steht, was die Griechen
auf diesen Gebieten lehrten, unseren heutigen Lehren viel näher, als
unser Naturerkennen dem ihrigen.

Die ersten großen Fortschritte aller empirischen Erkenntnis fallen in
die Epoche, in welcher die überlieferten Religionssysteme ins Wanken
kommen. Veränderte Lebensbedingungen erschüttern die alten ge-
heiligten Regeln des Handelns und Zusammenlebens. Mit dem Zweifel
an den alten kosmogonischen Vorstellungen kommt das Bedürfnis nach
einer tieferen oder anderen Erklärung der Welt und nach einer an-
deren Begründung des Sollens; man will die Vorschriften der Sitte,
des Rechts und der Moral nicht mehr bloß als Gebote Gottes ver-
stehen und erläutert sehen, sondern will sie aus Zwecken und Ur-
sachen erklärt haben. Es entstehen die philosophisch-physikalischen Sy-
steme der Welterklärung und die Moralsysteme; letztere als die ersten
eigentlichen Versuche einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Men-
schen. Aber die metaphysischen Systeme der Welterklärung und die
ethischen Systeme — in der Regel einheitlich verbunden — sind zu-
nächst doch weit entfernt, die charakteristischen Züge der alten Reli-
gionssysteme abzustreifen. Dazu reichte die dürftige Erkenntnis, auf
denen sie ruhen, nicht hin; noch weniger duldete der praktische Zweck
das. Die griechische Ethik und die meisten späteren ethischen Systeme

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[22/0026] V. DIE MORALSYSTEME Jahrhunderte und Jahrtausende leben so die Völker: Die Träger des Fortschrittes sind diejenigen, welche die höheren Religionssysteme aus- bilden, mit welchen und durch welche die bessere soziale Ordnung und die richtigere Regulierung des Trieblebens entstand, innerhalb deren die steigende Erkenntnis der Natur und des Menschen sich entwickeln konnte. Diese Erkenntnis ist darauf gerichtet, das einzelne für sich zu nehmen, es abstrahierend aus Ursachen zu erklären. Aber der Vor- gang hierbei war von Anfang an verschieden für das Naturerkennen und für das Menschenleben. Der Natur steht der Mensch als ein Frem- der gegenüber; er kann hier nur langsam vordringend beobachten, untersuchen, die ihm unbegreiflichen Ursachen verstehen. Dem Seelen- leben, dem Menschen, der Familie, dem Staate steht unser Intellekt als ein gleicher gegenüber, der gleichsam von innen heraus die Vor- kommnisse miterlebend versteht, der das Ganze stets mehr oder we- niger überschaut, es besitzt, während er nun erkennend das einzelne analysiert. Daher das bekannte von Dilthey mit Recht betonte histo- rische Ergebnis, daß eine gewisse Höhe der Erkenntnis auf psycholo- gischem, ethischem, politischem Gebiet eigentlich früher erreicht wurde, als auf dem der Natur. Wenigstens steht, was die Griechen auf diesen Gebieten lehrten, unseren heutigen Lehren viel näher, als unser Naturerkennen dem ihrigen. Die ersten großen Fortschritte aller empirischen Erkenntnis fallen in die Epoche, in welcher die überlieferten Religionssysteme ins Wanken kommen. Veränderte Lebensbedingungen erschüttern die alten ge- heiligten Regeln des Handelns und Zusammenlebens. Mit dem Zweifel an den alten kosmogonischen Vorstellungen kommt das Bedürfnis nach einer tieferen oder anderen Erklärung der Welt und nach einer an- deren Begründung des Sollens; man will die Vorschriften der Sitte, des Rechts und der Moral nicht mehr bloß als Gebote Gottes ver- stehen und erläutert sehen, sondern will sie aus Zwecken und Ur- sachen erklärt haben. Es entstehen die philosophisch-physikalischen Sy- steme der Welterklärung und die Moralsysteme; letztere als die ersten eigentlichen Versuche einer Wissenschaft vom gesellschaftlichen Men- schen. Aber die metaphysischen Systeme der Welterklärung und die ethischen Systeme — in der Regel einheitlich verbunden — sind zu- nächst doch weit entfernt, die charakteristischen Züge der alten Reli- gionssysteme abzustreifen. Dazu reichte die dürftige Erkenntnis, auf denen sie ruhen, nicht hin; noch weniger duldete der praktische Zweck das. Die griechische Ethik und die meisten späteren ethischen Systeme

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/26>, abgerufen am 20.04.2024.