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Schönaich, Christoph Otto von: Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch. [Breslau], 1754.

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So umarmen alle Weinstöcker. Jch mache mir
ein wahres und gerechtes Vergnügen, die Ursachen
anzuführen, welche die nie gesehenen Dichter
haben, anders, wie andere Leute, zu sprechen.
Sie stehen in der Nicol. Sammlung auf d.
45 S. und Herr Johann Samuel Patzke ist
der Verfasser davon.

"Sie sagen, die Kenner
"nämlich, daß sich die poetische Freyheit auf die
"allgemeine Regel gründe, welche diese ist: wenn
"zwey Gesetze zusammen kommen, die ich bey-
"de nicht beobachten kann, so muß ich von
"dem kleinern die Ausnahme machen.
Wenn
"der Verfasser des Meßias, beydes, sowohl
"eben die Größe und das Erhabene der Gedan-
"ken, als auch die strengste Reinigkeit der deut-
"schen
Sprache, so wie sie in der Prose seyn muß,
"und itzt in dem Gedichte herrschet, zugleich hätte
"beobachten können; so wäre es ein Fehler gewe-
"sen, wenn er es nicht gethan hätte. Allein,
"wann die eine Regel die andere aufhebet; wenn
"ich, durch den Sprachgebrauch, durch die ge-
"wöhnliche Wortfügung, oder wohl gar, durch
"ein recht reines einzelnes Wort, das nicht so viel
"bezeichnet, als es bezeichnen soll, abgehalten
"werde, den erhabenen Gedanken erhaben aus-
"zudrücken: so berufe ich mich auf das Urtheil
"aller Kenner, von welcher Regel sie mir rathen
"werden, die Ausnahme zu machen etc. So un-
"recht es in der mittleren, und niedern Den-
"kungsart ist, die Regeln der Sprache zu über-
"treten; so erlaubt macht es das höhere Gesetz
"der
Br

So umarmen alle Weinſtoͤcker. Jch mache mir
ein wahres und gerechtes Vergnuͤgen, die Urſachen
anzufuͤhren, welche die nie geſehenen Dichter
haben, anders, wie andere Leute, zu ſprechen.
Sie ſtehen in der Nicol. Sammlung auf d.
45 S. und Herr Johann Samuel Patzke iſt
der Verfaſſer davon.

“Sie ſagen, die Kenner
“naͤmlich, daß ſich die poetiſche Freyheit auf die
“allgemeine Regel gruͤnde, welche dieſe iſt: wenn
“zwey Geſetze zuſammen kommen, die ich bey-
“de nicht beobachten kann, ſo muß ich von
“dem kleinern die Ausnahme machen.
Wenn
“der Verfaſſer des Meßias, beydes, ſowohl
“eben die Groͤße und das Erhabene der Gedan-
“ken, als auch die ſtrengſte Reinigkeit der deut-
“ſchen
Sprache, ſo wie ſie in der Proſe ſeyn muß,
“und itzt in dem Gedichte herrſchet, zugleich haͤtte
“beobachten koͤnnen; ſo waͤre es ein Fehler gewe-
“ſen, wenn er es nicht gethan haͤtte. Allein,
“wann die eine Regel die andere aufhebet; wenn
“ich, durch den Sprachgebrauch, durch die ge-
“woͤhnliche Wortfuͤgung, oder wohl gar, durch
“ein recht reines einzelnes Wort, das nicht ſo viel
“bezeichnet, als es bezeichnen ſoll, abgehalten
“werde, den erhabenen Gedanken erhaben aus-
“zudruͤcken: ſo berufe ich mich auf das Urtheil
“aller Kenner, von welcher Regel ſie mir rathen
“werden, die Ausnahme zu machen ꝛc. So un-
“recht es in der mittleren, und niedern Den-
“kungsart iſt, die Regeln der Sprache zu uͤber-
“treten; ſo erlaubt macht es das hoͤhere Geſetz
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[82/0108] Br So umarmen alle Weinſtoͤcker. Jch mache mir ein wahres und gerechtes Vergnuͤgen, die Urſachen anzufuͤhren, welche die nie geſehenen Dichter haben, anders, wie andere Leute, zu ſprechen. Sie ſtehen in der Nicol. Sammlung auf d. 45 S. und Herr Johann Samuel Patzke iſt der Verfaſſer davon. “Sie ſagen, die Kenner “naͤmlich, daß ſich die poetiſche Freyheit auf die “allgemeine Regel gruͤnde, welche dieſe iſt: wenn “zwey Geſetze zuſammen kommen, die ich bey- “de nicht beobachten kann, ſo muß ich von “dem kleinern die Ausnahme machen. Wenn “der Verfaſſer des Meßias, beydes, ſowohl “eben die Groͤße und das Erhabene der Gedan- “ken, als auch die ſtrengſte Reinigkeit der deut- “ſchen Sprache, ſo wie ſie in der Proſe ſeyn muß, “und itzt in dem Gedichte herrſchet, zugleich haͤtte “beobachten koͤnnen; ſo waͤre es ein Fehler gewe- “ſen, wenn er es nicht gethan haͤtte. Allein, “wann die eine Regel die andere aufhebet; wenn “ich, durch den Sprachgebrauch, durch die ge- “woͤhnliche Wortfuͤgung, oder wohl gar, durch “ein recht reines einzelnes Wort, das nicht ſo viel “bezeichnet, als es bezeichnen ſoll, abgehalten “werde, den erhabenen Gedanken erhaben aus- “zudruͤcken: ſo berufe ich mich auf das Urtheil “aller Kenner, von welcher Regel ſie mir rathen “werden, die Ausnahme zu machen ꝛc. So un- “recht es in der mittleren, und niedern Den- “kungsart iſt, die Regeln der Sprache zu uͤber- “treten; ſo erlaubt macht es das hoͤhere Geſetz “der

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Zitationshilfe: Schönaich, Christoph Otto von: Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch. [Breslau], 1754, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoenaich_aesthetik_1754/108>, abgerufen am 28.04.2024.