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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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8. -- 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE.
ausgeschlossen bleiben, wohl aber darf früher kein Unterrichts-
gegenstand von der Form der Anschaulichkeit ganz entblösst
werden, wenn er seine volle Eindringlichkeit erhalten soll.

Der dritte Hauptgrundsatz der Unterrichtsmethode ist:
Hinwirkung auf selbstschaffende Denkkraft (entwik-
kelnder, erregender, heuristischer Unterricht). Das Wissen
muss ein lebendiges Wissen sein, wenn es fruchtbar, d. h.
überhaupt für Lebenszwecke verwendbar und förderlich wer-
den soll -- in einem selbstständigen, fruchterzeugenden Verar-
beiten der aufgenommenen Geistesnahrung bestehen. Das
nächste Ziel bei der Ausbildung der Intelligenz überhaupt
muss immer die Entwickelung eines richtigen selbständigen
Urtheiles und soweit möglich die Ueberzeugung von der Wahr-
heit des Mitgetheilten sein, wodurch allein das Endziel er-
reicht, d. h. die gedankenerzeugende Kraft gebildet werden
kann. Ueberzeugung gibt aber nicht passiver Autoritätsglaube,
sondern sie bildet sich nur durch das Finden der Wahrheit
mittels eigener Geistesthätigkeit, des Selbstdenkens. Da nun
die Wahrheit in unendlich vielen Beziehungen nicht fertig da-
liegt, sondern erst das Produkt des Meinungskampfes ist, so
soll auch jedes Kind in seiner Sphäre zum würdigen Mitkäm-
pfer für die Wahrheit erzogen werden, wozu ein tiefbegründe-
tes selbständiges Urtheil unentbehrlich ist. Etwaige Ausartung
in Altklugheit muss natürlich der Tact des Lehrers abschnei-
den. -- Beim Mittheilen positiver Kenntnisse sollte darauf
noch viel mehr, als im Allgemeinen geschieht, hingewirkt
werden. Ein blos mechanisches Einfüllen von Kenntnissen
ohne gleichzeitige Bildung des klaren, durchdringenden
Verständnisses (der geistigen Verdauung) der Sache und des
Urtheiles ist eine blosse Abrichtung, eine Ueberladung des
Geistes mit unfruchtbarem Stoffe, also geisttödtend, eine Ueber-
füllung der geistigen Vorrathskammer (des Gedächtnisses) mit
rohem und todtem Materiale, welches die lebendige Kraft der
geistigen Werkstätte (die selbständige Denkkraft) erdrückt.

Es ist dies nicht so zu verstehen, als solle einer unver-
hältnissmässigen oder gar einseitigen Benutzung des entwik-
kelnden Unterrichtes das Wort geredet werden. Um aus dem

8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE.
ausgeschlossen bleiben, wohl aber darf früher kein Unterrichts-
gegenstand von der Form der Anschaulichkeit ganz entblösst
werden, wenn er seine volle Eindringlichkeit erhalten soll.

Der dritte Hauptgrundsatz der Unterrichtsmethode ist:
Hinwirkung auf selbstschaffende Denkkraft (entwik-
kelnder, erregender, heuristischer Unterricht). Das Wissen
muss ein lebendiges Wissen sein, wenn es fruchtbar, d. h.
überhaupt für Lebenszwecke verwendbar und förderlich wer-
den soll — in einem selbstständigen, fruchterzeugenden Verar-
beiten der aufgenommenen Geistesnahrung bestehen. Das
nächste Ziel bei der Ausbildung der Intelligenz überhaupt
muss immer die Entwickelung eines richtigen selbständigen
Urtheiles und soweit möglich die Ueberzeugung von der Wahr-
heit des Mitgetheilten sein, wodurch allein das Endziel er-
reicht, d. h. die gedankenerzeugende Kraft gebildet werden
kann. Ueberzeugung gibt aber nicht passiver Autoritätsglaube,
sondern sie bildet sich nur durch das Finden der Wahrheit
mittels eigener Geistesthätigkeit, des Selbstdenkens. Da nun
die Wahrheit in unendlich vielen Beziehungen nicht fertig da-
liegt, sondern erst das Produkt des Meinungskampfes ist, so
soll auch jedes Kind in seiner Sphäre zum würdigen Mitkäm-
pfer für die Wahrheit erzogen werden, wozu ein tiefbegründe-
tes selbständiges Urtheil unentbehrlich ist. Etwaige Ausartung
in Altklugheit muss natürlich der Tact des Lehrers abschnei-
den. — Beim Mittheilen positiver Kenntnisse sollte darauf
noch viel mehr, als im Allgemeinen geschieht, hingewirkt
werden. Ein blos mechanisches Einfüllen von Kenntnissen
ohne gleichzeitige Bildung des klaren, durchdringenden
Verständnisses (der geistigen Verdauung) der Sache und des
Urtheiles ist eine blosse Abrichtung, eine Ueberladung des
Geistes mit unfruchtbarem Stoffe, also geisttödtend, eine Ueber-
füllung der geistigen Vorrathskammer (des Gedächtnisses) mit
rohem und todtem Materiale, welches die lebendige Kraft der
geistigen Werkstätte (die selbständige Denkkraft) erdrückt.

Es ist dies nicht so zu verstehen, als solle einer unver-
hältnissmässigen oder gar einseitigen Benutzung des entwik-
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[232/0236] 8. — 16. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND IM UNTERRICHTE. ausgeschlossen bleiben, wohl aber darf früher kein Unterrichts- gegenstand von der Form der Anschaulichkeit ganz entblösst werden, wenn er seine volle Eindringlichkeit erhalten soll. Der dritte Hauptgrundsatz der Unterrichtsmethode ist: Hinwirkung auf selbstschaffende Denkkraft (entwik- kelnder, erregender, heuristischer Unterricht). Das Wissen muss ein lebendiges Wissen sein, wenn es fruchtbar, d. h. überhaupt für Lebenszwecke verwendbar und förderlich wer- den soll — in einem selbstständigen, fruchterzeugenden Verar- beiten der aufgenommenen Geistesnahrung bestehen. Das nächste Ziel bei der Ausbildung der Intelligenz überhaupt muss immer die Entwickelung eines richtigen selbständigen Urtheiles und soweit möglich die Ueberzeugung von der Wahr- heit des Mitgetheilten sein, wodurch allein das Endziel er- reicht, d. h. die gedankenerzeugende Kraft gebildet werden kann. Ueberzeugung gibt aber nicht passiver Autoritätsglaube, sondern sie bildet sich nur durch das Finden der Wahrheit mittels eigener Geistesthätigkeit, des Selbstdenkens. Da nun die Wahrheit in unendlich vielen Beziehungen nicht fertig da- liegt, sondern erst das Produkt des Meinungskampfes ist, so soll auch jedes Kind in seiner Sphäre zum würdigen Mitkäm- pfer für die Wahrheit erzogen werden, wozu ein tiefbegründe- tes selbständiges Urtheil unentbehrlich ist. Etwaige Ausartung in Altklugheit muss natürlich der Tact des Lehrers abschnei- den. — Beim Mittheilen positiver Kenntnisse sollte darauf noch viel mehr, als im Allgemeinen geschieht, hingewirkt werden. Ein blos mechanisches Einfüllen von Kenntnissen ohne gleichzeitige Bildung des klaren, durchdringenden Verständnisses (der geistigen Verdauung) der Sache und des Urtheiles ist eine blosse Abrichtung, eine Ueberladung des Geistes mit unfruchtbarem Stoffe, also geisttödtend, eine Ueber- füllung der geistigen Vorrathskammer (des Gedächtnisses) mit rohem und todtem Materiale, welches die lebendige Kraft der geistigen Werkstätte (die selbständige Denkkraft) erdrückt. Es ist dies nicht so zu verstehen, als solle einer unver- hältnissmässigen oder gar einseitigen Benutzung des entwik- kelnden Unterrichtes das Wort geredet werden. Um aus dem

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/236>, abgerufen am 29.04.2024.