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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
tatio singularis) ausgeübt, ihr Verfahren schon auf das Individuum
angewendet werden.

Logisch betrachtet ist es gleichgültig für das Ergebniss eines
Abstraktionsprozesses, ob man denselben nur einmal, oder öfters, voll-
zogen habe, ob an einem oder an unzähligen Objekten. Psychologisch
aber macht solches einen sehr beträchtlichen Unterschied aus, und es
dürfte fraglich sein, ob nicht in dieser Hinsicht es geradezu als eine
Vorbedingung für die Möglichkeit des Abstraktionsvollzuges hinzustellen
ist, dass wir erst der individuellen Verschiedenheit der durch Abstrak-
tion zu sondernden Merkmale inne geworden seien dadurch, dass durch
Vergleichung verschiedener Objekte wir die Übereinstimmung der einen
neben der Verschiedenheit der andern wahrgenommen.

t2) Wir versuchten vorstehend genetisch auseinanderzusetzen, auf
welche Weise wir dazu gelangen, uns einen Begriff, notio, conceptus,
conception zu bilden von den durch einen Gemeinnamen dargestellten
Dingen.

Der Begriff ist das -- in gewissem Sinne unvollendet, ein "Ideal"
bleibende -- Resultat des eben (unter r2 und s2) geschilderten Pro-
zesses.

Sein "Wesen" (essentia), oder, wie man auch sagt, seinen "In-
halt
" (complexus, intent) bilden eben die gemeinsamen Merkmale der
mit dem Gemeinnamen bezeichneten Dinge, und zwar seinen "faktischen"
Inhalt diejenigen der letztern, auf welche bei seiner Bildung reflektirt
wurde, seinen "idealen" Inhalt aber die sämtlichen gemeinsamen Merk-
male überhaupt, welche als solche erkannt werden könnten, die es
aber vielleicht niemals vollständig auszudenken möglich.

Im Gegensatz zu diesem Inhalte wird die Gesamtheit, Klasse der
unter dem Gemeinnamen (distributiv) zusammengefassten Individuen
bezeichnet als der "Umfang" (ambitus, sphaera, extent) des zugehörigen
Begriffes.

Beispielsweise sind im Begriffe "materielle Substanz" als dessen In-
halt zusammengefasst die Merkmale: ausgedehnt und von bestimmter Raum-
erfüllung zu sein, d. i. sich irgendwo im Raume zu befinden, die Merkmale
der Beweglichkeit, Undurchdringlichkeit, Trägheit und Schwere, überhaupt
die Eigenschaft, der Sitz von Kräften zu sein, dazu von unzerstörbarer und
unerschaff barer Masse, also der Masse nach geschätzt, von ewiger Fort-
dauer zu sein, das Merkmal, eine Temperatur zu besitzen, und anderes
mehr. Seinen Umfang macht alles das zusammen aus, was überhaupt
Materie heisst: jeder Körper, jeder Teil eines solchen und jede Gruppe von
Körpern im Weltall.

u2) Gemäss der hervorgehobenen zwiefachen Hinsicht -- nach

6*

Einleitung.
tatio singularis) ausgeübt, ihr Verfahren schon auf das Individuum
angewendet werden.

Logisch betrachtet ist es gleichgültig für das Ergebniss eines
Abstraktionsprozesses, ob man denselben nur einmal, oder öfters, voll-
zogen habe, ob an einem oder an unzähligen Objekten. Psychologisch
aber macht solches einen sehr beträchtlichen Unterschied aus, und es
dürfte fraglich sein, ob nicht in dieser Hinsicht es geradezu als eine
Vorbedingung für die Möglichkeit des Abstraktionsvollzuges hinzustellen
ist, dass wir erst der individuellen Verschiedenheit der durch Abstrak-
tion zu sondernden Merkmale inne geworden seien dadurch, dass durch
Vergleichung verschiedener Objekte wir die Übereinstimmung der einen
neben der Verschiedenheit der andern wahrgenommen.

τ2) Wir versuchten vorstehend genetisch auseinanderzusetzen, auf
welche Weise wir dazu gelangen, uns einen Begriff, notio, conceptus,
conception zu bilden von den durch einen Gemeinnamen dargestellten
Dingen.

Der Begriff ist das — in gewissem Sinne unvollendet, ein „Ideal“
bleibende — Resultat des eben (unter ϱ2 und σ2) geschilderten Pro-
zesses.

Sein „Wesen“ (essentia), oder, wie man auch sagt, seinen „In-
halt
“ (complexus, intent) bilden eben die gemeinsamen Merkmale der
mit dem Gemeinnamen bezeichneten Dinge, und zwar seinen „faktischen
Inhalt diejenigen der letztern, auf welche bei seiner Bildung reflektirt
wurde, seinen „idealen“ Inhalt aber die sämtlichen gemeinsamen Merk-
male überhaupt, welche als solche erkannt werden könnten, die es
aber vielleicht niemals vollständig auszudenken möglich.

Im Gegensatz zu diesem Inhalte wird die Gesamtheit, Klasse der
unter dem Gemeinnamen (distributiv) zusammengefassten Individuen
bezeichnet als der „Umfang“ (ambitus, sphaera, extent) des zugehörigen
Begriffes.

Beispielsweise sind im Begriffe „materielle Substanz“ als dessen In-
halt zusammengefasst die Merkmale: ausgedehnt und von bestimmter Raum-
erfüllung zu sein, d. i. sich irgendwo im Raume zu befinden, die Merkmale
der Beweglichkeit, Undurchdringlichkeit, Trägheit und Schwere, überhaupt
die Eigenschaft, der Sitz von Kräften zu sein, dazu von unzerstörbarer und
unerschaff barer Masse, also der Masse nach geschätzt, von ewiger Fort-
dauer zu sein, das Merkmal, eine Temperatur zu besitzen, und anderes
mehr. Seinen Umfang macht alles das zusammen aus, was überhaupt
Materie heisst: jeder Körper, jeder Teil eines solchen und jede Gruppe von
Körpern im Weltall.

υ2) Gemäss der hervorgehobenen zwiefachen Hinsicht — nach

6*
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[83/0103] Einleitung. tatio singularis) ausgeübt, ihr Verfahren schon auf das Individuum angewendet werden. Logisch betrachtet ist es gleichgültig für das Ergebniss eines Abstraktionsprozesses, ob man denselben nur einmal, oder öfters, voll- zogen habe, ob an einem oder an unzähligen Objekten. Psychologisch aber macht solches einen sehr beträchtlichen Unterschied aus, und es dürfte fraglich sein, ob nicht in dieser Hinsicht es geradezu als eine Vorbedingung für die Möglichkeit des Abstraktionsvollzuges hinzustellen ist, dass wir erst der individuellen Verschiedenheit der durch Abstrak- tion zu sondernden Merkmale inne geworden seien dadurch, dass durch Vergleichung verschiedener Objekte wir die Übereinstimmung der einen neben der Verschiedenheit der andern wahrgenommen. τ2) Wir versuchten vorstehend genetisch auseinanderzusetzen, auf welche Weise wir dazu gelangen, uns einen Begriff, notio, conceptus, conception zu bilden von den durch einen Gemeinnamen dargestellten Dingen. Der Begriff ist das — in gewissem Sinne unvollendet, ein „Ideal“ bleibende — Resultat des eben (unter ϱ2 und σ2) geschilderten Pro- zesses. Sein „Wesen“ (essentia), oder, wie man auch sagt, seinen „In- halt“ (complexus, intent) bilden eben die gemeinsamen Merkmale der mit dem Gemeinnamen bezeichneten Dinge, und zwar seinen „faktischen“ Inhalt diejenigen der letztern, auf welche bei seiner Bildung reflektirt wurde, seinen „idealen“ Inhalt aber die sämtlichen gemeinsamen Merk- male überhaupt, welche als solche erkannt werden könnten, die es aber vielleicht niemals vollständig auszudenken möglich. Im Gegensatz zu diesem Inhalte wird die Gesamtheit, Klasse der unter dem Gemeinnamen (distributiv) zusammengefassten Individuen bezeichnet als der „Umfang“ (ambitus, sphaera, extent) des zugehörigen Begriffes. Beispielsweise sind im Begriffe „materielle Substanz“ als dessen In- halt zusammengefasst die Merkmale: ausgedehnt und von bestimmter Raum- erfüllung zu sein, d. i. sich irgendwo im Raume zu befinden, die Merkmale der Beweglichkeit, Undurchdringlichkeit, Trägheit und Schwere, überhaupt die Eigenschaft, der Sitz von Kräften zu sein, dazu von unzerstörbarer und unerschaff barer Masse, also der Masse nach geschätzt, von ewiger Fort- dauer zu sein, das Merkmal, eine Temperatur zu besitzen, und anderes mehr. Seinen Umfang macht alles das zusammen aus, was überhaupt Materie heisst: jeder Körper, jeder Teil eines solchen und jede Gruppe von Körpern im Weltall. υ2) Gemäss der hervorgehobenen zwiefachen Hinsicht — nach 6*

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/103>, abgerufen am 05.05.2024.