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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
materiellen Welt, wo man auf die Dinge hinzuweisen vermag, sie mit-
unter gleichsam etikettiren könnte, sondern auch aus der geistigen
Welt, aus der Welt des Bewusstseins, mit dem ganzen Reichtum von
Beziehungen, die es wahrzunehmen vermag, aus der Welt des Gemüts-
lebens und Wollens, der Gefühle, auf dem gesamten intellektuellen
Gebiete -- wie es m. a. W. erreicht werden kann, dass jene Mehrheit
dieselbe Sprache rede -- dies ist auf den ersten Blick schon sehr
erstaunlich.

Indessen unternehmen wir es nicht, diese interessante Frage zu
beantworten, hier auseinanderzusetzen, kraft welcher von der Natur
in den Menschen gelegter Triebe und auf welche Weise in dem jugend-
lichen Verkehr des Individuums mit seinen nächsten Anverwandten,
durch die Erziehung und das Leben diese Aufgabe lösbar ist und in
weitem Umfange auch gelöst zu werden pflegt.

u1) Es genügt zu konstatiren, dass aber die Aufgabe, welche
nationale Gemeinschaft wir auch in's Auge fassen mögen, doch bei
weitem nicht vollkommen gelöst ist. Der Sprachschatz einer jeden
von unsern Kultursprachen überliefert vielmehr uns eine Fülle von
Namen, welche der oben als wesentlich aufgestellten Anforderung der
Einsinnigkeit durchaus nicht genügen, im Gebrauch denn auch durch
ihren Doppelsinn zur Quelle von Missverständnissen werden und Un-
bedachtsamen gegenüber nicht selten zu missbräuchlicher Anwendung
sich hergeben.

Ein Name, bezüglich dessen jene Anforderung nicht erfüllt ist,
heisst ein "doppelsinniger" oder "mehrsinniger", nomen aequivocum oder
ambiguum, wofern er nämlich -- dies müssen wir eigentlich der vor-
stehenden Erklärung noch hinzufügen -- überhaupt (einen) Sinn hat,
wirklich Name für etwas ist, m. a. W. falls wir nur den sinnlosen oder
"unsinnigen" Namen, wie "rundes Quadrat" (dergleichen die Wissen-
schaften gelegentlich auch hervorbringen) beiseite lassen.

Für "doppelsinnig" wird auch häufig "zweideutig" gesagt; doch könnte
dieser Gebrauch selbst zur Quelle von Missverständnissen werden, indem,
wie wir nachher sehen werden, auch das Wort "zweideutig" ein doppel-
sinniges ist -- vergl. l2).

Das Wesen der Doppelsinnigkeit ist nicht darin zu erblicken, dass
der Name eine Mehrheit von Dingen als seine Bedeutung umfasst (wie
einerseits der "Kollektivname" und andrerseits der "Gemeinname", von
denen weiter unten die Rede sein wird). Vielmehr beruht solche ledig-
lich auf dem schwankenden Gebrauche, dem wir den Namen unterwerfen.
Die Doppelsinnigkeit ist ein Merkmal der Anwendungsweise des Namens.

Einleitung.
materiellen Welt, wo man auf die Dinge hinzuweisen vermag, sie mit-
unter gleichsam etikettiren könnte, sondern auch aus der geistigen
Welt, aus der Welt des Bewusstseins, mit dem ganzen Reichtum von
Beziehungen, die es wahrzunehmen vermag, aus der Welt des Gemüts-
lebens und Wollens, der Gefühle, auf dem gesamten intellektuellen
Gebiete — wie es m. a. W. erreicht werden kann, dass jene Mehrheit
dieselbe Sprache rede — dies ist auf den ersten Blick schon sehr
erstaunlich.

Indessen unternehmen wir es nicht, diese interessante Frage zu
beantworten, hier auseinanderzusetzen, kraft welcher von der Natur
in den Menschen gelegter Triebe und auf welche Weise in dem jugend-
lichen Verkehr des Individuums mit seinen nächsten Anverwandten,
durch die Erziehung und das Leben diese Aufgabe lösbar ist und in
weitem Umfange auch gelöst zu werden pflegt.

υ1) Es genügt zu konstatiren, dass aber die Aufgabe, welche
nationale Gemeinschaft wir auch in's Auge fassen mögen, doch bei
weitem nicht vollkommen gelöst ist. Der Sprachschatz einer jeden
von unsern Kultursprachen überliefert vielmehr uns eine Fülle von
Namen, welche der oben als wesentlich aufgestellten Anforderung der
Einsinnigkeit durchaus nicht genügen, im Gebrauch denn auch durch
ihren Doppelsinn zur Quelle von Missverständnissen werden und Un-
bedachtsamen gegenüber nicht selten zu missbräuchlicher Anwendung
sich hergeben.

Ein Name, bezüglich dessen jene Anforderung nicht erfüllt ist,
heisst ein „doppelsinniger“ oder „mehrsinniger“, nomen aequivocum oder
ambiguum, wofern er nämlich — dies müssen wir eigentlich der vor-
stehenden Erklärung noch hinzufügen — überhaupt (einen) Sinn hat,
wirklich Name für etwas ist, m. a. W. falls wir nur den sinnlosen oder
unsinnigen“ Namen, wie „rundes Quadrat“ (dergleichen die Wissen-
schaften gelegentlich auch hervorbringen) beiseite lassen.

Für „doppelsinnig“ wird auch häufig „zweideutig“ gesagt; doch könnte
dieser Gebrauch selbst zur Quelle von Missverständnissen werden, indem,
wie wir nachher sehen werden, auch das Wort „zweideutig“ ein doppel-
sinniges ist — vergl. λ2).

Das Wesen der Doppelsinnigkeit ist nicht darin zu erblicken, dass
der Name eine Mehrheit von Dingen als seine Bedeutung umfasst (wie
einerseits der „Kollektivname“ und andrerseits der „Gemeinname“, von
denen weiter unten die Rede sein wird). Vielmehr beruht solche ledig-
lich auf dem schwankenden Gebrauche, dem wir den Namen unterwerfen.
Die Doppelsinnigkeit ist ein Merkmal der Anwendungsweise des Namens.

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[50/0070] Einleitung. materiellen Welt, wo man auf die Dinge hinzuweisen vermag, sie mit- unter gleichsam etikettiren könnte, sondern auch aus der geistigen Welt, aus der Welt des Bewusstseins, mit dem ganzen Reichtum von Beziehungen, die es wahrzunehmen vermag, aus der Welt des Gemüts- lebens und Wollens, der Gefühle, auf dem gesamten intellektuellen Gebiete — wie es m. a. W. erreicht werden kann, dass jene Mehrheit dieselbe Sprache rede — dies ist auf den ersten Blick schon sehr erstaunlich. Indessen unternehmen wir es nicht, diese interessante Frage zu beantworten, hier auseinanderzusetzen, kraft welcher von der Natur in den Menschen gelegter Triebe und auf welche Weise in dem jugend- lichen Verkehr des Individuums mit seinen nächsten Anverwandten, durch die Erziehung und das Leben diese Aufgabe lösbar ist und in weitem Umfange auch gelöst zu werden pflegt. υ1) Es genügt zu konstatiren, dass aber die Aufgabe, welche nationale Gemeinschaft wir auch in's Auge fassen mögen, doch bei weitem nicht vollkommen gelöst ist. Der Sprachschatz einer jeden von unsern Kultursprachen überliefert vielmehr uns eine Fülle von Namen, welche der oben als wesentlich aufgestellten Anforderung der Einsinnigkeit durchaus nicht genügen, im Gebrauch denn auch durch ihren Doppelsinn zur Quelle von Missverständnissen werden und Un- bedachtsamen gegenüber nicht selten zu missbräuchlicher Anwendung sich hergeben. Ein Name, bezüglich dessen jene Anforderung nicht erfüllt ist, heisst ein „doppelsinniger“ oder „mehrsinniger“, nomen aequivocum oder ambiguum, wofern er nämlich — dies müssen wir eigentlich der vor- stehenden Erklärung noch hinzufügen — überhaupt (einen) Sinn hat, wirklich Name für etwas ist, m. a. W. falls wir nur den sinnlosen oder „unsinnigen“ Namen, wie „rundes Quadrat“ (dergleichen die Wissen- schaften gelegentlich auch hervorbringen) beiseite lassen. Für „doppelsinnig“ wird auch häufig „zweideutig“ gesagt; doch könnte dieser Gebrauch selbst zur Quelle von Missverständnissen werden, indem, wie wir nachher sehen werden, auch das Wort „zweideutig“ ein doppel- sinniges ist — vergl. λ2). Das Wesen der Doppelsinnigkeit ist nicht darin zu erblicken, dass der Name eine Mehrheit von Dingen als seine Bedeutung umfasst (wie einerseits der „Kollektivname“ und andrerseits der „Gemeinname“, von denen weiter unten die Rede sein wird). Vielmehr beruht solche ledig- lich auf dem schwankenden Gebrauche, dem wir den Namen unterwerfen. Die Doppelsinnigkeit ist ein Merkmal der Anwendungsweise des Namens.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/70>, abgerufen am 04.05.2024.