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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
mehr in's Gewicht fallen könne, als eine gründliche Bekanntschaft mit
den grossen Unvollkommenheiten der Sprache, und dass an praktischem
Nutzen kaum ein Teil der Logik denjenigen übertreffen dürfte, der auf
die Vielsinnigkeit der Ausdrücke aufmerksam macht. Je mehr man
sich in der That in die subtilen Schwankungen (variations) in der
Bedeutung ganz geläufiger Worte vertieft, desto mehr wird man die
gefährliche Natur der Werkzeuge (tools) gewahr, deren wir uns bei
allen Mitteilungen und Argumentationen zu bedienen haben.

Wird der Gebildete auf diesen Punkt auch sorgsamer achten als der
Ungebildete, so ist doch auch jenem im allgemeinen der Vorwurf nicht zu
ersparen, dass selbst da, wo die Sprache zur Vermeidung jeder Doppel-
sinnigkeit bequeme Ausdrucksmöglichkeiten bietet, er sich diese nicht immer
hinlänglich zunutze macht.

Mit Recht hebt z. B. Mill die Doppelsinnigkeit hervor, mit welcher
fast allerorten das Pronomen "derselbe (dieselbe, dasselbe)" gebraucht zu
werden pflegt -- bald im Sinne von "der nämliche" (und dann also auch
"gleiche"), bald in dem Sinne von "ein gleicher", aber nicht der nämliche.
Es ist im Grunde (im erstern Sinne) nicht derselbe Eindruck, den ich em-
pfange, wenn ich ein sich gleichgebliebenes Ding ein zweites Mal wahr-
nehme. Wie oft spricht man nicht auch von "Produktionen", wo man
eigentlich von den Produkten reden müsste, und dergl.!

Der Doppelsinn des Hülfszeitworts "sein" als Kopula und als Existenz-
behauptung -- z. B. Der Pegasus ist geflügelt und ist (d. h. existirt) doch
überhaupt nicht! -- hat jahrhundertelang die Logiker vexirt, ja in der Irre
herumgeführt. Auf den Doppelsinn mancher Wörter der eigenen Sprache
wird man durch das Studium fremder Sprachen erst aufmerksam gemacht;
so durch die französische Unterscheidung zwischen "pouvoir" und "savoir"
auf den Doppelsinn des deutschen "können"; auf den der Verba "haben"
und "sein" (letzteres in noch einer andern als der vorhin erwähnten Hin-
sicht) durch die Unterscheidung zwischen "haber" und "tener" resp. "ser"
und "estar" im Spanischen. Ist "Vorstellung" doppelsinnig als Akt und
als Resultat des Vorstellens, so haben wir uns bestrebt, das Wort hier
immer nur im letztern Sinne zu gebrauchen.

Triftig bemerkt Jevons, dass hierin selbst die Logiker sich nicht viel besser
gezeigt haben, als andere Leute. Unter dem Wort "Negation" werden wir selbst,
eben notgedrungen dem Sprachgebrauch huldigend, nicht umhin können, bald zu
verstehen die Operation des Negirens, bald aber das Ergebniss dieses Prozesses.

Der Doppelsinn eines Worts ist um so ungefährlicher, je weiter die
Gebiete des Denkens (Begriffssphären), denen seine verschiedenen Bedeu-
tungen angehören, auseinanderliegen. So dürfte z. B. der Doppelsinn des
Wortes "Widder" zur Bezeichnung des Sternbilds im Tierkreise einer- und
des männlichen Schafes andrerseits (ev. auch noch für eine mittelalterliche
Belagerungsmaschine) nicht leicht Verwechselungen nahe legen.

Auf die aus Meinungsverschiedenheit unter den Menschen entspringende
Mehrsinnigkeit von Ausdrücken, wie "die schönste Frau", "das beste Ver-
fahren", etc. macht die Logik von Port-Royal noch aufmerksam.

Einleitung.
mehr in's Gewicht fallen könne, als eine gründliche Bekanntschaft mit
den grossen Unvollkommenheiten der Sprache, und dass an praktischem
Nutzen kaum ein Teil der Logik denjenigen übertreffen dürfte, der auf
die Vielsinnigkeit der Ausdrücke aufmerksam macht. Je mehr man
sich in der That in die subtilen Schwankungen (variations) in der
Bedeutung ganz geläufiger Worte vertieft, desto mehr wird man die
gefährliche Natur der Werkzeuge (tools) gewahr, deren wir uns bei
allen Mitteilungen und Argumentationen zu bedienen haben.

Wird der Gebildete auf diesen Punkt auch sorgsamer achten als der
Ungebildete, so ist doch auch jenem im allgemeinen der Vorwurf nicht zu
ersparen, dass selbst da, wo die Sprache zur Vermeidung jeder Doppel-
sinnigkeit bequeme Ausdrucksmöglichkeiten bietet, er sich diese nicht immer
hinlänglich zunutze macht.

Mit Recht hebt z. B. Mill die Doppelsinnigkeit hervor, mit welcher
fast allerorten das Pronomen „derselbe (dieselbe, dasselbe)“ gebraucht zu
werden pflegt — bald im Sinne von „der nämliche“ (und dann also auch
„gleiche“), bald in dem Sinne von „ein gleicher“, aber nicht der nämliche.
Es ist im Grunde (im erstern Sinne) nicht derselbe Eindruck, den ich em-
pfange, wenn ich ein sich gleichgebliebenes Ding ein zweites Mal wahr-
nehme. Wie oft spricht man nicht auch von „Produktionen“, wo man
eigentlich von den Produkten reden müsste, und dergl.!

Der Doppelsinn des Hülfszeitworts „sein“ als Kopula und als Existenz-
behauptung — z. B. Der Pegasus ist geflügelt und ist (d. h. existirt) doch
überhaupt nicht! — hat jahrhundertelang die Logiker vexirt, ja in der Irre
herumgeführt. Auf den Doppelsinn mancher Wörter der eigenen Sprache
wird man durch das Studium fremder Sprachen erst aufmerksam gemacht;
so durch die französische Unterscheidung zwischen „pouvoir“ und „savoir“
auf den Doppelsinn des deutschen „können“; auf den der Verba „haben“
und „sein“ (letzteres in noch einer andern als der vorhin erwähnten Hin-
sicht) durch die Unterscheidung zwischen „haber“ und „tener“ resp. „ser“
und „estar“ im Spanischen. Ist „Vorstellung“ doppelsinnig als Akt und
als Resultat des Vorstellens, so haben wir uns bestrebt, das Wort hier
immer nur im letztern Sinne zu gebrauchen.

Triftig bemerkt Jevons, dass hierin selbst die Logiker sich nicht viel besser
gezeigt haben, als andere Leute. Unter dem Wort „Negation“ werden wir selbst,
eben notgedrungen dem Sprachgebrauch huldigend, nicht umhin können, bald zu
verstehen die Operation des Negirens, bald aber das Ergebniss dieses Prozesses.

Der Doppelsinn eines Worts ist um so ungefährlicher, je weiter die
Gebiete des Denkens (Begriffssphären), denen seine verschiedenen Bedeu-
tungen angehören, auseinanderliegen. So dürfte z. B. der Doppelsinn des
Wortes „Widder“ zur Bezeichnung des Sternbilds im Tierkreise einer- und
des männlichen Schafes andrerseits (ev. auch noch für eine mittelalterliche
Belagerungsmaschine) nicht leicht Verwechselungen nahe legen.

Auf die aus Meinungsverschiedenheit unter den Menschen entspringende
Mehrsinnigkeit von Ausdrücken, wie „die schönste Frau“, „das beste Ver-
fahren“, etc. macht die Logik von Port-Royal noch aufmerksam.

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[52/0072] Einleitung. mehr in's Gewicht fallen könne, als eine gründliche Bekanntschaft mit den grossen Unvollkommenheiten der Sprache, und dass an praktischem Nutzen kaum ein Teil der Logik denjenigen übertreffen dürfte, der auf die Vielsinnigkeit der Ausdrücke aufmerksam macht. Je mehr man sich in der That in die subtilen Schwankungen (variations) in der Bedeutung ganz geläufiger Worte vertieft, desto mehr wird man die gefährliche Natur der Werkzeuge (tools) gewahr, deren wir uns bei allen Mitteilungen und Argumentationen zu bedienen haben. Wird der Gebildete auf diesen Punkt auch sorgsamer achten als der Ungebildete, so ist doch auch jenem im allgemeinen der Vorwurf nicht zu ersparen, dass selbst da, wo die Sprache zur Vermeidung jeder Doppel- sinnigkeit bequeme Ausdrucksmöglichkeiten bietet, er sich diese nicht immer hinlänglich zunutze macht. Mit Recht hebt z. B. Mill die Doppelsinnigkeit hervor, mit welcher fast allerorten das Pronomen „derselbe (dieselbe, dasselbe)“ gebraucht zu werden pflegt — bald im Sinne von „der nämliche“ (und dann also auch „gleiche“), bald in dem Sinne von „ein gleicher“, aber nicht der nämliche. Es ist im Grunde (im erstern Sinne) nicht derselbe Eindruck, den ich em- pfange, wenn ich ein sich gleichgebliebenes Ding ein zweites Mal wahr- nehme. Wie oft spricht man nicht auch von „Produktionen“, wo man eigentlich von den Produkten reden müsste, und dergl.! Der Doppelsinn des Hülfszeitworts „sein“ als Kopula und als Existenz- behauptung — z. B. Der Pegasus ist geflügelt und ist (d. h. existirt) doch überhaupt nicht! — hat jahrhundertelang die Logiker vexirt, ja in der Irre herumgeführt. Auf den Doppelsinn mancher Wörter der eigenen Sprache wird man durch das Studium fremder Sprachen erst aufmerksam gemacht; so durch die französische Unterscheidung zwischen „pouvoir“ und „savoir“ auf den Doppelsinn des deutschen „können“; auf den der Verba „haben“ und „sein“ (letzteres in noch einer andern als der vorhin erwähnten Hin- sicht) durch die Unterscheidung zwischen „haber“ und „tener“ resp. „ser“ und „estar“ im Spanischen. Ist „Vorstellung“ doppelsinnig als Akt und als Resultat des Vorstellens, so haben wir uns bestrebt, das Wort hier immer nur im letztern Sinne zu gebrauchen. Triftig bemerkt Jevons, dass hierin selbst die Logiker sich nicht viel besser gezeigt haben, als andere Leute. Unter dem Wort „Negation“ werden wir selbst, eben notgedrungen dem Sprachgebrauch huldigend, nicht umhin können, bald zu verstehen die Operation des Negirens, bald aber das Ergebniss dieses Prozesses. Der Doppelsinn eines Worts ist um so ungefährlicher, je weiter die Gebiete des Denkens (Begriffssphären), denen seine verschiedenen Bedeu- tungen angehören, auseinanderliegen. So dürfte z. B. der Doppelsinn des Wortes „Widder“ zur Bezeichnung des Sternbilds im Tierkreise einer- und des männlichen Schafes andrerseits (ev. auch noch für eine mittelalterliche Belagerungsmaschine) nicht leicht Verwechselungen nahe legen. Auf die aus Meinungsverschiedenheit unter den Menschen entspringende Mehrsinnigkeit von Ausdrücken, wie „die schönste Frau“, „das beste Ver- fahren“, etc. macht die Logik von Port-Royal noch aufmerksam.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/72>, abgerufen am 04.05.2024.