Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

klammert, aufthaue und löse. Er schien ihr so groß, so rein, so edel im Vergleich mit den Männern, die sie in diesen Tagen umgeben -- sie wußte es sich nicht zu erklären -- aber es lag ein Zauber für sie in seinem Wesen, der ihr nach und nach alles Andere fern rückte, was nicht er war. Sie hatte ein unendlich wohlthuendes Gefühl von Sicherheit unter seinem Dache.

Leonore fand es unmöglich, etwas von dem Mahle zu genießen, welches die Mutter Philibert's geschäftig für sie improvisirt hatte. Sobald das Zimmerchen geordnet war, in welchem sie die Nacht zubringen sollte, zog sie sich dahin zurück. Ruhend, ermüdet, zwischen Traum und Wachen schwebend, hörte sie noch lange den eintönigen Gesang des Nachtwindes, der durch die Nadeln der Edeltanne pfiff, welche vor ihrem Fenster stand. Der Mondschein lag hell auf den Waldwipfeln draußen, und wenn sie halbgeschlossenen Auges in die grüne Welt voll stummen Lebens blickte, war es ihr, als schaue sie immer tiefer und tiefer in eine neue, unentdeckte, vom Fuß des Menschen nie betretene Schöpfung hinein. Da waren hohe Berge und üppige, riesenhafte Pflanzen, Blumen, Bäume, kristallhelle Springbrunnen und schmelzende, schwermüthige Stimmen niegesehener Wundervögel, die sich auf dunkeln, himmelanstrebenden Palmenästen wiegten. Eine verhaltene, ahnungvolle Stimmung, ein gedämpftes und mattes Licht, eine Spannung und Erwartung lag auf der jungfräulichen Schöpfung -- da flatterte plötzlich ein Rauschen durch die Blätter von Wi-

klammert, aufthaue und löse. Er schien ihr so groß, so rein, so edel im Vergleich mit den Männern, die sie in diesen Tagen umgeben — sie wußte es sich nicht zu erklären — aber es lag ein Zauber für sie in seinem Wesen, der ihr nach und nach alles Andere fern rückte, was nicht er war. Sie hatte ein unendlich wohlthuendes Gefühl von Sicherheit unter seinem Dache.

Leonore fand es unmöglich, etwas von dem Mahle zu genießen, welches die Mutter Philibert's geschäftig für sie improvisirt hatte. Sobald das Zimmerchen geordnet war, in welchem sie die Nacht zubringen sollte, zog sie sich dahin zurück. Ruhend, ermüdet, zwischen Traum und Wachen schwebend, hörte sie noch lange den eintönigen Gesang des Nachtwindes, der durch die Nadeln der Edeltanne pfiff, welche vor ihrem Fenster stand. Der Mondschein lag hell auf den Waldwipfeln draußen, und wenn sie halbgeschlossenen Auges in die grüne Welt voll stummen Lebens blickte, war es ihr, als schaue sie immer tiefer und tiefer in eine neue, unentdeckte, vom Fuß des Menschen nie betretene Schöpfung hinein. Da waren hohe Berge und üppige, riesenhafte Pflanzen, Blumen, Bäume, kristallhelle Springbrunnen und schmelzende, schwermüthige Stimmen niegesehener Wundervögel, die sich auf dunkeln, himmelanstrebenden Palmenästen wiegten. Eine verhaltene, ahnungvolle Stimmung, ein gedämpftes und mattes Licht, eine Spannung und Erwartung lag auf der jungfräulichen Schöpfung — da flatterte plötzlich ein Rauschen durch die Blätter von Wi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="9">
        <p><pb facs="#f0116"/>
klammert, aufthaue und löse. Er schien ihr so groß, so      rein, so edel im Vergleich mit den Männern, die sie in diesen Tagen umgeben &#x2014; sie wußte es sich      nicht zu erklären &#x2014; aber es lag ein Zauber für sie in seinem Wesen, der ihr nach und nach alles      Andere fern rückte, was nicht er war. Sie hatte ein unendlich wohlthuendes Gefühl von      Sicherheit unter seinem Dache.</p><lb/>
        <p>Leonore fand es unmöglich, etwas von dem Mahle zu genießen, welches die Mutter Philibert's      geschäftig für sie improvisirt hatte. Sobald das Zimmerchen geordnet war, in welchem sie die      Nacht zubringen sollte, zog sie sich dahin zurück. Ruhend, ermüdet, zwischen Traum und Wachen      schwebend, hörte sie noch lange den eintönigen Gesang des Nachtwindes, der durch die Nadeln der      Edeltanne pfiff, welche vor ihrem Fenster stand. Der Mondschein lag hell auf den Waldwipfeln      draußen, und wenn sie halbgeschlossenen Auges in die grüne Welt voll stummen Lebens blickte,      war es ihr, als schaue sie immer tiefer und tiefer in eine neue, unentdeckte, vom Fuß des      Menschen nie betretene Schöpfung hinein. Da waren hohe Berge und üppige, riesenhafte Pflanzen,      Blumen, Bäume, kristallhelle Springbrunnen und schmelzende, schwermüthige Stimmen niegesehener      Wundervögel, die sich auf dunkeln, himmelanstrebenden Palmenästen wiegten. Eine verhaltene,      ahnungvolle Stimmung, ein gedämpftes und mattes Licht, eine Spannung und Erwartung lag auf der      jungfräulichen Schöpfung &#x2014; da flatterte plötzlich ein Rauschen durch die Blätter von Wi-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0116] klammert, aufthaue und löse. Er schien ihr so groß, so rein, so edel im Vergleich mit den Männern, die sie in diesen Tagen umgeben — sie wußte es sich nicht zu erklären — aber es lag ein Zauber für sie in seinem Wesen, der ihr nach und nach alles Andere fern rückte, was nicht er war. Sie hatte ein unendlich wohlthuendes Gefühl von Sicherheit unter seinem Dache. Leonore fand es unmöglich, etwas von dem Mahle zu genießen, welches die Mutter Philibert's geschäftig für sie improvisirt hatte. Sobald das Zimmerchen geordnet war, in welchem sie die Nacht zubringen sollte, zog sie sich dahin zurück. Ruhend, ermüdet, zwischen Traum und Wachen schwebend, hörte sie noch lange den eintönigen Gesang des Nachtwindes, der durch die Nadeln der Edeltanne pfiff, welche vor ihrem Fenster stand. Der Mondschein lag hell auf den Waldwipfeln draußen, und wenn sie halbgeschlossenen Auges in die grüne Welt voll stummen Lebens blickte, war es ihr, als schaue sie immer tiefer und tiefer in eine neue, unentdeckte, vom Fuß des Menschen nie betretene Schöpfung hinein. Da waren hohe Berge und üppige, riesenhafte Pflanzen, Blumen, Bäume, kristallhelle Springbrunnen und schmelzende, schwermüthige Stimmen niegesehener Wundervögel, die sich auf dunkeln, himmelanstrebenden Palmenästen wiegten. Eine verhaltene, ahnungvolle Stimmung, ein gedämpftes und mattes Licht, eine Spannung und Erwartung lag auf der jungfräulichen Schöpfung — da flatterte plötzlich ein Rauschen durch die Blätter von Wi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/116
Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/116>, abgerufen am 29.04.2024.