Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911.

Bild:
<< vorherige Seite


16 W. SCHULZE:


gewöhnt war, mit Notwendigkeit auf die Fragen, wieweit sich in ihr
die Zustände des Entstehungszeitalters ungetrübt reflektieren und welches
Bild urkeltischen Heidentums wir dahinter ahnend zu erkennen vermögen.
So lehrte das Beispiel seiner Untersuchung über Iren und Nordgermanen
die späten Niederschläge der Vikingerzeit auszusondern und die geschicht-
liche Anschauung der Anfänge irischen Volkstums von ihrem die Wahr-
heit entstellenden Einflusse freizumachen. Bedeutungsvoller noch war die
Antwort, die Zimmer der zweiten Frage gefunden hat. Aus wiederholten
Andeutungen läßt sich erkennen, daß ihn, der vom germanischen und indi-
schen Altertum her an die irische Heldensage herangetreten war, die hier der
Frau zugewiesene Stellung und Rolle als etwas abstoßend Fremdartiges be-
rührt und zugleich wissenschaftlich beunruhigt hat. Der Nachweis mutter-
rechtlicher Erbfolge und mutterrechtlicher Zustände bei den Pikten, den stamm-
fremden Vorgängern der Kelten im Besitze der britischen Inseln, löste die
Aporie durch die glaubhafte Voraussetzung einer Bluts- und Kulturmischung
und verpflichtete die Sprach- und Geschichtsforschung zu neuen Aufgaben,
deren fernes Ziel die methodische Sonderung der in Sprache und Sitte über-
einander gelagerten Schichten urzeitlichen und indogermanischen Charakters
sein muß (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 15, 1894,
Roman. Abt. 209. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909, 84. 1911, 174).
Allzeit ist in Zimmer ein starkes Interesse an den politischen Fragen
der Gegenwart lebendig gewesen, das ihn gelegentlich selbst zu persön-
lichem Eintreten in die Wahlkämpfe seiner neuen Heimat gedrängt hat.
So verbindet sich denn auch politisches und historisches Interesse, zugleich
mitfühlendes Verständnis für alle Regungen nationalen Lebens und unbe-
fangen nüchterne Abschätzung der realen Bedingungen des Erfolges in der
planmäßigen, auch die Zeugnisse der einheimischen Tagespresse ausbeu-
tenden Aufmerksamkeit, mit der er die fortschreitende Selbstbesinnung
der modernen Kelten in Irland und Schottland, im englischen Wales und
in der französischen Bretagne, das Wiedererstarken ihrer nationalen Sprache,
das Erwachen pankeltischer Verbrüderungsideen und die unausbleibliche
Rückwirkung dieser Bewegung auf die innere Politik, vor allem Englands,
verfolgt hat. In einer Reihe umfassender Vorträge hat er die einzelnen
Phasen dieser Entwicklung auf der Grundlage ihrer geschichtlichen Vor-
aussetzungen anschaulich geschildert, auch ihr sehr verschieden geartetes
inneres Verhältnis zu protestantischer Gemeindefrömmigkeit und römisch-


16 W. SCHULZE:


gewöhnt war, mit Notwendigkeit auf die Fragen, wieweit sich in ihr
die Zustände des Entstehungszeitalters ungetrübt reflektieren und welches
Bild urkeltischen Heidentums wir dahinter ahnend zu erkennen vermögen.
So lehrte das Beispiel seiner Untersuchung über Iren und Nordgermanen
die späten Niederschläge der Vikingerzeit auszusondern und die geschicht-
liche Anschauung der Anfänge irischen Volkstums von ihrem die Wahr-
heit entstellenden Einflusse freizumachen. Bedeutungsvoller noch war die
Antwort, die Zimmer der zweiten Frage gefunden hat. Aus wiederholten
Andeutungen läßt sich erkennen, daß ihn, der vom germanischen und indi-
schen Altertum her an die irische Heldensage herangetreten war, die hier der
Frau zugewiesene Stellung und Rolle als etwas abstoßend Fremdartiges be-
rührt und zugleich wissenschaftlich beunruhigt hat. Der Nachweis mutter-
rechtlicher Erbfolge und mutterrechtlicher Zustände bei den Pikten, den stamm-
fremden Vorgängern der Kelten im Besitze der britischen Inseln, löste die
Aporie durch die glaubhafte Voraussetzung einer Bluts- und Kulturmischung
und verpflichtete die Sprach- und Geschichtsforschung zu neuen Aufgaben,
deren fernes Ziel die methodische Sonderung der in Sprache und Sitte über-
einander gelagerten Schichten urzeitlichen und indogermanischen Charakters
sein muß (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 15, 1894,
Roman. Abt. 209. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909, 84. 1911, 174).
Allzeit ist in Zimmer ein starkes Interesse an den politischen Fragen
der Gegenwart lebendig gewesen, das ihn gelegentlich selbst zu persön-
lichem Eintreten in die Wahlkämpfe seiner neuen Heimat gedrängt hat.
So verbindet sich denn auch politisches und historisches Interesse, zugleich
mitfühlendes Verständnis für alle Regungen nationalen Lebens und unbe-
fangen nüchterne Abschätzung der realen Bedingungen des Erfolges in der
planmäßigen, auch die Zeugnisse der einheimischen Tagespresse ausbeu-
tenden Aufmerksamkeit, mit der er die fortschreitende Selbstbesinnung
der modernen Kelten in Irland und Schottland, im englischen Wales und
in der französischen Bretagne, das Wiedererstarken ihrer nationalen Sprache,
das Erwachen pankeltischer Verbrüderungsideen und die unausbleibliche
Rückwirkung dieser Bewegung auf die innere Politik, vor allem Englands,
verfolgt hat. In einer Reihe umfassender Vorträge hat er die einzelnen
Phasen dieser Entwicklung auf der Grundlage ihrer geschichtlichen Vor-
aussetzungen anschaulich geschildert, auch ihr sehr verschieden geartetes
inneres Verhältnis zu protestantischer Gemeindefrömmigkeit und römisch-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0018" n="18"/>
        <p><lb/>
16 W. SCHULZE:</p>
        <p><lb/>
gewöhnt war, mit Notwendigkeit auf die Fragen, wieweit sich in ihr<lb/>
die Zustände des Entstehungszeitalters ungetrübt reflektieren und welches<lb/>
Bild urkeltischen Heidentums wir dahinter ahnend zu erkennen vermögen.<lb/>
So lehrte das Beispiel seiner Untersuchung über Iren und Nordgermanen<lb/>
die späten Niederschläge der Vikingerzeit auszusondern und die geschicht-<lb/>
liche Anschauung der Anfänge irischen Volkstums von ihrem die Wahr-<lb/>
heit entstellenden Einflusse freizumachen. Bedeutungsvoller noch war die<lb/>
Antwort, die Zimmer der zweiten Frage gefunden hat. Aus wiederholten<lb/>
Andeutungen läßt sich erkennen, daß ihn, der vom germanischen und indi-<lb/>
schen Altertum her an die irische Heldensage herangetreten war, die hier der<lb/>
Frau zugewiesene Stellung und Rolle als etwas abstoßend Fremdartiges be-<lb/>
rührt und zugleich wissenschaftlich beunruhigt hat. Der Nachweis mutter-<lb/>
rechtlicher Erbfolge und mutterrechtlicher Zustände bei den Pikten, den stamm-<lb/>
fremden Vorgängern der Kelten im Besitze der britischen Inseln, löste die<lb/>
Aporie durch die glaubhafte Voraussetzung einer Bluts- und Kulturmischung<lb/>
und verpflichtete die Sprach- und Geschichtsforschung zu neuen Aufgaben,<lb/>
deren fernes Ziel die methodische Sonderung der in Sprache und Sitte über-<lb/>
einander gelagerten Schichten urzeitlichen und indogermanischen Charakters<lb/>
sein muß (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 15, 1894,<lb/>
Roman. Abt. 209. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909, 84. 1911, 174).<lb/>
Allzeit ist in Zimmer ein starkes Interesse an den politischen Fragen<lb/>
der Gegenwart lebendig gewesen, das ihn gelegentlich selbst zu persön-<lb/>
lichem Eintreten in die Wahlkämpfe seiner neuen Heimat gedrängt hat.<lb/>
So verbindet sich denn auch politisches und historisches Interesse, zugleich<lb/>
mitfühlendes Verständnis für alle Regungen nationalen Lebens und unbe-<lb/>
fangen nüchterne Abschätzung der realen Bedingungen des Erfolges in der<lb/>
planmäßigen, auch die Zeugnisse der einheimischen Tagespresse ausbeu-<lb/>
tenden Aufmerksamkeit, mit der er die fortschreitende Selbstbesinnung<lb/>
der modernen Kelten in Irland und Schottland, im englischen Wales und<lb/>
in der französischen Bretagne, das Wiedererstarken ihrer nationalen Sprache,<lb/>
das Erwachen pankeltischer Verbrüderungsideen und die unausbleibliche<lb/>
Rückwirkung dieser Bewegung auf die innere Politik, vor allem Englands,<lb/>
verfolgt hat. In einer Reihe umfassender Vorträge hat er die einzelnen<lb/>
Phasen dieser Entwicklung auf der Grundlage ihrer geschichtlichen Vor-<lb/>
aussetzungen anschaulich geschildert, auch ihr sehr verschieden geartetes<lb/>
inneres Verhältnis zu protestantischer Gemeindefrömmigkeit und römisch-</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0018] 16 W. SCHULZE: gewöhnt war, mit Notwendigkeit auf die Fragen, wieweit sich in ihr die Zustände des Entstehungszeitalters ungetrübt reflektieren und welches Bild urkeltischen Heidentums wir dahinter ahnend zu erkennen vermögen. So lehrte das Beispiel seiner Untersuchung über Iren und Nordgermanen die späten Niederschläge der Vikingerzeit auszusondern und die geschicht- liche Anschauung der Anfänge irischen Volkstums von ihrem die Wahr- heit entstellenden Einflusse freizumachen. Bedeutungsvoller noch war die Antwort, die Zimmer der zweiten Frage gefunden hat. Aus wiederholten Andeutungen läßt sich erkennen, daß ihn, der vom germanischen und indi- schen Altertum her an die irische Heldensage herangetreten war, die hier der Frau zugewiesene Stellung und Rolle als etwas abstoßend Fremdartiges be- rührt und zugleich wissenschaftlich beunruhigt hat. Der Nachweis mutter- rechtlicher Erbfolge und mutterrechtlicher Zustände bei den Pikten, den stamm- fremden Vorgängern der Kelten im Besitze der britischen Inseln, löste die Aporie durch die glaubhafte Voraussetzung einer Bluts- und Kulturmischung und verpflichtete die Sprach- und Geschichtsforschung zu neuen Aufgaben, deren fernes Ziel die methodische Sonderung der in Sprache und Sitte über- einander gelagerten Schichten urzeitlichen und indogermanischen Charakters sein muß (Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 15, 1894, Roman. Abt. 209. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1909, 84. 1911, 174). Allzeit ist in Zimmer ein starkes Interesse an den politischen Fragen der Gegenwart lebendig gewesen, das ihn gelegentlich selbst zu persön- lichem Eintreten in die Wahlkämpfe seiner neuen Heimat gedrängt hat. So verbindet sich denn auch politisches und historisches Interesse, zugleich mitfühlendes Verständnis für alle Regungen nationalen Lebens und unbe- fangen nüchterne Abschätzung der realen Bedingungen des Erfolges in der planmäßigen, auch die Zeugnisse der einheimischen Tagespresse ausbeu- tenden Aufmerksamkeit, mit der er die fortschreitende Selbstbesinnung der modernen Kelten in Irland und Schottland, im englischen Wales und in der französischen Bretagne, das Wiedererstarken ihrer nationalen Sprache, das Erwachen pankeltischer Verbrüderungsideen und die unausbleibliche Rückwirkung dieser Bewegung auf die innere Politik, vor allem Englands, verfolgt hat. In einer Reihe umfassender Vorträge hat er die einzelnen Phasen dieser Entwicklung auf der Grundlage ihrer geschichtlichen Vor- aussetzungen anschaulich geschildert, auch ihr sehr verschieden geartetes inneres Verhältnis zu protestantischer Gemeindefrömmigkeit und römisch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Digitalisate und OCR. (2020-03-03T12:13:05Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, OCR-D: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-03-04T12:13:05Z)

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.

  • Bogensignaturen: nicht übernommen;
  • Druckfehler: ignoriert;
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;
  • Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;
  • I/J in Fraktur: wie Vorlage;
  • i/j in Fraktur: wie Vorlage;
  • Kolumnentitel: nicht übernommen;
  • Kustoden: nicht übernommen;
  • langes s (ſ): wie Vorlage;
  • Normalisierungen: keine;
  • rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
  • Seitenumbrüche markiert: ja;
  • Silbentrennung: wie Vorlage;
  • u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
  • Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst;
  • Zeichensetzung: wie Vorlage;
  • Zeilenumbrüche markiert: ja;



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schulze_zimmer_1911
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schulze_zimmer_1911/18
Zitationshilfe: Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulze_zimmer_1911/18>, abgerufen am 28.04.2024.