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Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911.

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4 W. SCHULZE:


wie sie sich in der Lebensarbeit Müllenhoffs vorbildlich verkörpert. In
dieser seltenen Durchdringung sprachlicher und geschichtlicher Forschung,
in der kein Teil dem anderen dient, sondern beide in einer höheren Ein-
heit verschmelzen, liegt auch Zimmers eigenste Stärke und seine unzer-
störbare Bedeutung für die werdende keltische Philologie: kein Wunder,
daß er noch in späteren Jahren beim Schreiben am liebsten an Müllenhoff
als den stillen Teilnehmer und unbestechlichen Richter seiner Forschung
dachte. Auch zu Jacob Grimms Deutscher Grammatik, der unerschöpf-
lichen Schatzkammer genialer Sprachbeobachtung, gewann Zimmer durch
Scherer sofort eine Art persönlichen Verhältnisses, als er Anfang 1874
seinem Lehrer bei der Vorbereitung und Korrektur des 'neuen vermehrten
Abdrucks' hilfreich an die Hand ging.
Merkwürdig rasch wandelte sich, unter dem anspornenden Zureden
Scherers, der offenbar mit Bedacht die Entwicklung eines ungewöhn-
lichen Talentes beschleunigte, der lernende Student in einen Forscher und
Schriftsteller von schnellwachsender Reife, dessen sicheres Auftreten blut-
wenig vom Anfänger verriet, dessen überall aus der Quelle schöpfende,
von klugem Urteil geleitete Untersuchung alsbald das Ohr der Fachge-
nossen gewann, hier und da wohl auch durch die Bestimmtheit des Tones
und die Offenheit der Kritik es reizte. Die erste Rezension, über Ficks
Vergleichendes Wörterbuch III3 (Anzeiger für Deutsches Altertum I, 1),
trägt das Datum des 10. März 1875 (eben hatte der Verfasser sein drittes
Semester vollendet), und noch vor Ablauf des Jahres erschien, durch eine
Vorrede Scherers eingeleitet, das erste, umfangreiche Buch über die
'Nominalsuffixe A und A in den germanischen Sprachen', eine von der
philosophischen Fakultät am 1. Mai 1875 gekrönte Preisschrift, deren Aus-
arbeitung das zweite und dritte Universitätssemester in Anspruch genommen
hatte. Und als Zimmer im Winter 1875 auf 1876 eine neue, vortrefflich
gelungene Untersuchung über die ethnische Gliederung der Germanen,
'Ostgermanisch und Westgermanisch' (Zeitschrift für Deutsches Altertum
19, 1876, 393--462), seinem Lehrer Scherer im Manuskript abgeschlossen
vorlegte, drängte ihn dieser zu sofortiger Promotion und erwirkte von
der Fakultät einen Beschluß, dem Bewerber in Anerkennung seiner bereits
erwiesenen literarischen Bewährung die übliche Forderung dreijährigen Stu-
diums nachzulassen. Am Schlusse des fünften Semesters, 15. März 1876,
erfolgte die Promotion.


4 W. SCHULZE:


wie sie sich in der Lebensarbeit Müllenhoffs vorbildlich verkörpert. In
dieser seltenen Durchdringung sprachlicher und geschichtlicher Forschung,
in der kein Teil dem anderen dient, sondern beide in einer höheren Ein-
heit verschmelzen, liegt auch Zimmers eigenste Stärke und seine unzer-
störbare Bedeutung für die werdende keltische Philologie: kein Wunder,
daß er noch in späteren Jahren beim Schreiben am liebsten an Müllenhoff
als den stillen Teilnehmer und unbestechlichen Richter seiner Forschung
dachte. Auch zu Jacob Grimms Deutscher Grammatik, der unerschöpf-
lichen Schatzkammer genialer Sprachbeobachtung, gewann Zimmer durch
Scherer sofort eine Art persönlichen Verhältnisses, als er Anfang 1874
seinem Lehrer bei der Vorbereitung und Korrektur des ‘neuen vermehrten
Abdrucks’ hilfreich an die Hand ging.
Merkwürdig rasch wandelte sich, unter dem anspornenden Zureden
Scherers, der offenbar mit Bedacht die Entwicklung eines ungewöhn-
lichen Talentes beschleunigte, der lernende Student in einen Forscher und
Schriftsteller von schnellwachsender Reife, dessen sicheres Auftreten blut-
wenig vom Anfänger verriet, dessen überall aus der Quelle schöpfende,
von klugem Urteil geleitete Untersuchung alsbald das Ohr der Fachge-
nossen gewann, hier und da wohl auch durch die Bestimmtheit des Tones
und die Offenheit der Kritik es reizte. Die erste Rezension, über Ficks
Vergleichendes Wörterbuch III³ (Anzeiger für Deutsches Altertum I, 1),
trägt das Datum des 10. März 1875 (eben hatte der Verfasser sein drittes
Semester vollendet), und noch vor Ablauf des Jahres erschien, durch eine
Vorrede Scherers eingeleitet, das erste, umfangreiche Buch über die
‘Nominalsuffixe A und Å in den germanischen Sprachen’, eine von der
philosophischen Fakultät am 1. Mai 1875 gekrönte Preisschrift, deren Aus-
arbeitung das zweite und dritte Universitätssemester in Anspruch genommen
hatte. Und als Zimmer im Winter 1875 auf 1876 eine neue, vortrefflich
gelungene Untersuchung über die ethnische Gliederung der Germanen,
‘Ostgermanisch und Westgermanisch’ (Zeitschrift für Deutsches Altertum
19, 1876, 393—462), seinem Lehrer Scherer im Manuskript abgeschlossen
vorlegte, drängte ihn dieser zu sofortiger Promotion und erwirkte von
der Fakultät einen Beschluß, dem Bewerber in Anerkennung seiner bereits
erwiesenen literarischen Bewährung die übliche Forderung dreijährigen Stu-
diums nachzulassen. Am Schlusse des fünften Semesters, 15. März 1876,
erfolgte die Promotion.

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[6/0006] 4 W. SCHULZE: wie sie sich in der Lebensarbeit Müllenhoffs vorbildlich verkörpert. In dieser seltenen Durchdringung sprachlicher und geschichtlicher Forschung, in der kein Teil dem anderen dient, sondern beide in einer höheren Ein- heit verschmelzen, liegt auch Zimmers eigenste Stärke und seine unzer- störbare Bedeutung für die werdende keltische Philologie: kein Wunder, daß er noch in späteren Jahren beim Schreiben am liebsten an Müllenhoff als den stillen Teilnehmer und unbestechlichen Richter seiner Forschung dachte. Auch zu Jacob Grimms Deutscher Grammatik, der unerschöpf- lichen Schatzkammer genialer Sprachbeobachtung, gewann Zimmer durch Scherer sofort eine Art persönlichen Verhältnisses, als er Anfang 1874 seinem Lehrer bei der Vorbereitung und Korrektur des ‘neuen vermehrten Abdrucks’ hilfreich an die Hand ging. Merkwürdig rasch wandelte sich, unter dem anspornenden Zureden Scherers, der offenbar mit Bedacht die Entwicklung eines ungewöhn- lichen Talentes beschleunigte, der lernende Student in einen Forscher und Schriftsteller von schnellwachsender Reife, dessen sicheres Auftreten blut- wenig vom Anfänger verriet, dessen überall aus der Quelle schöpfende, von klugem Urteil geleitete Untersuchung alsbald das Ohr der Fachge- nossen gewann, hier und da wohl auch durch die Bestimmtheit des Tones und die Offenheit der Kritik es reizte. Die erste Rezension, über Ficks Vergleichendes Wörterbuch III³ (Anzeiger für Deutsches Altertum I, 1), trägt das Datum des 10. März 1875 (eben hatte der Verfasser sein drittes Semester vollendet), und noch vor Ablauf des Jahres erschien, durch eine Vorrede Scherers eingeleitet, das erste, umfangreiche Buch über die ‘Nominalsuffixe A und Å in den germanischen Sprachen’, eine von der philosophischen Fakultät am 1. Mai 1875 gekrönte Preisschrift, deren Aus- arbeitung das zweite und dritte Universitätssemester in Anspruch genommen hatte. Und als Zimmer im Winter 1875 auf 1876 eine neue, vortrefflich gelungene Untersuchung über die ethnische Gliederung der Germanen, ‘Ostgermanisch und Westgermanisch’ (Zeitschrift für Deutsches Altertum 19, 1876, 393—462), seinem Lehrer Scherer im Manuskript abgeschlossen vorlegte, drängte ihn dieser zu sofortiger Promotion und erwirkte von der Fakultät einen Beschluß, dem Bewerber in Anerkennung seiner bereits erwiesenen literarischen Bewährung die übliche Forderung dreijährigen Stu- diums nachzulassen. Am Schlusse des fünften Semesters, 15. März 1876, erfolgte die Promotion.

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Zitationshilfe: Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulze_zimmer_1911/6>, abgerufen am 29.04.2024.