Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

zu Argos bis ins Alter hinter dem Webstuhl sitzen! Geh,
reize mich nicht, mache, daß du gesund in deine Heimath
kommst!"

Chryses erschrack und gehorchte. Schweigend eilte er
an den Meeresstrand; dort aber erhob er seine Hände zu
dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: "Höre
mich, Sminthier, der du zu Chrysa, Cilla und Tenedos
herrschest! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohl¬
gefallen geschmückt, und dir auserlesene Opfer dargebracht
habe, so vergilt jetzt den Achivern mit dem Geschosse!"

So betete er laut: und Apollo erhörte seine Bitte.
Zorn im Herzen verließ er den Olymp, Bogen und
Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter; so
wandelte er einher wie die düstere Nacht, dann setzte er
sich in einiger Entfernung von den griechischen Schiffen
nieder und schnellte Pfeil um Pfeil ab, daß sein silberner
Bogen grauenvoll erklang. Wen aber sein unsichtbarer
Pfeil traf, der starb den plötzlichen Tod der Pest. An¬
fangs nun erlegte er im Lager nur Maulthiere und Hunde,
bald aber wandte er sein Geschoß auch gegen die Men¬
schen, daß einer um den andern dahinsank und bald die
Todtenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten.
Neun Tage lang wüthete die Pest im griechischen Heere.
Am zehnten Tage berief Achilles, dem die Beschirmerin
der Griechen, Juno, es ins Herz gelegt, eine Volksver¬
sammlung, nahm das Wort, und rieth, einen der Opfer¬
priester, Seher oder Traumdeuter im Heere zu befragen,
durch welche Opfer der Eifer Phöbus Apollo's besänftigt
und das Unheil abgewendet werden könne.

Hierauf stand der weiseste Vogelschauer im Heere,
der Seher Kalchas auf, und erklärte, den Zorn des

zu Argos bis ins Alter hinter dem Webſtuhl ſitzen! Geh,
reize mich nicht, mache, daß du geſund in deine Heimath
kommſt!“

Chryſes erſchrack und gehorchte. Schweigend eilte er
an den Meeresſtrand; dort aber erhob er ſeine Hände zu
dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: „Höre
mich, Sminthier, der du zu Chryſa, Cilla und Tenedos
herrſcheſt! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohl¬
gefallen geſchmückt, und dir auserleſene Opfer dargebracht
habe, ſo vergilt jetzt den Achivern mit dem Geſchoſſe!“

So betete er laut: und Apollo erhörte ſeine Bitte.
Zorn im Herzen verließ er den Olymp, Bogen und
Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter; ſo
wandelte er einher wie die düſtere Nacht, dann ſetzte er
ſich in einiger Entfernung von den griechiſchen Schiffen
nieder und ſchnellte Pfeil um Pfeil ab, daß ſein ſilberner
Bogen grauenvoll erklang. Wen aber ſein unſichtbarer
Pfeil traf, der ſtarb den plötzlichen Tod der Peſt. An¬
fangs nun erlegte er im Lager nur Maulthiere und Hunde,
bald aber wandte er ſein Geſchoß auch gegen die Men¬
ſchen, daß einer um den andern dahinſank und bald die
Todtenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten.
Neun Tage lang wüthete die Peſt im griechiſchen Heere.
Am zehnten Tage berief Achilles, dem die Beſchirmerin
der Griechen, Juno, es ins Herz gelegt, eine Volksver¬
ſammlung, nahm das Wort, und rieth, einen der Opfer¬
prieſter, Seher oder Traumdeuter im Heere zu befragen,
durch welche Opfer der Eifer Phöbus Apollo's beſänftigt
und das Unheil abgewendet werden könne.

Hierauf ſtand der weiſeſte Vogelſchauer im Heere,
der Seher Kalchas auf, und erklärte, den Zorn des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="86"/>
zu Argos bis ins Alter hinter dem Web&#x017F;tuhl &#x017F;itzen! Geh,<lb/>
reize mich nicht, mache, daß du ge&#x017F;und in deine Heimath<lb/>
komm&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Chry&#x017F;es er&#x017F;chrack und gehorchte. Schweigend eilte er<lb/>
an den Meeres&#x017F;trand; dort aber erhob er &#x017F;eine Hände zu<lb/>
dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: &#x201E;Höre<lb/>
mich, Sminthier, der du zu Chry&#x017F;a, Cilla und Tenedos<lb/>
herr&#x017F;che&#x017F;t! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohl¬<lb/>
gefallen ge&#x017F;chmückt, und dir auserle&#x017F;ene Opfer dargebracht<lb/>
habe, &#x017F;o vergilt jetzt den Achivern mit dem Ge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;e!&#x201C;</p><lb/>
          <p>So betete er laut: und Apollo erhörte &#x017F;eine Bitte.<lb/>
Zorn im Herzen verließ er den Olymp, Bogen und<lb/>
Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter; &#x017F;o<lb/>
wandelte er einher wie die dü&#x017F;tere Nacht, dann &#x017F;etzte er<lb/>
&#x017F;ich in einiger Entfernung von den griechi&#x017F;chen Schiffen<lb/>
nieder und &#x017F;chnellte Pfeil um Pfeil ab, daß &#x017F;ein &#x017F;ilberner<lb/>
Bogen grauenvoll erklang. Wen aber &#x017F;ein un&#x017F;ichtbarer<lb/>
Pfeil traf, der &#x017F;tarb den plötzlichen Tod der Pe&#x017F;t. An¬<lb/>
fangs nun erlegte er im Lager nur Maulthiere und Hunde,<lb/>
bald aber wandte er &#x017F;ein Ge&#x017F;choß auch gegen die Men¬<lb/>
&#x017F;chen, daß einer um den andern dahin&#x017F;ank und bald die<lb/>
Todtenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten.<lb/>
Neun Tage lang wüthete die Pe&#x017F;t im griechi&#x017F;chen Heere.<lb/>
Am zehnten Tage berief Achilles, dem die Be&#x017F;chirmerin<lb/>
der Griechen, Juno, es ins Herz gelegt, eine Volksver¬<lb/>
&#x017F;ammlung, nahm das Wort, und rieth, einen der Opfer¬<lb/>
prie&#x017F;ter, Seher oder Traumdeuter im Heere zu befragen,<lb/>
durch welche Opfer der Eifer Phöbus Apollo's be&#x017F;änftigt<lb/>
und das Unheil abgewendet werden könne.</p><lb/>
          <p>Hierauf &#x017F;tand der wei&#x017F;e&#x017F;te Vogel&#x017F;chauer im Heere,<lb/>
der Seher Kalchas auf, und erklärte, den Zorn des<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0108] zu Argos bis ins Alter hinter dem Webſtuhl ſitzen! Geh, reize mich nicht, mache, daß du geſund in deine Heimath kommſt!“ Chryſes erſchrack und gehorchte. Schweigend eilte er an den Meeresſtrand; dort aber erhob er ſeine Hände zu dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: „Höre mich, Sminthier, der du zu Chryſa, Cilla und Tenedos herrſcheſt! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohl¬ gefallen geſchmückt, und dir auserleſene Opfer dargebracht habe, ſo vergilt jetzt den Achivern mit dem Geſchoſſe!“ So betete er laut: und Apollo erhörte ſeine Bitte. Zorn im Herzen verließ er den Olymp, Bogen und Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter; ſo wandelte er einher wie die düſtere Nacht, dann ſetzte er ſich in einiger Entfernung von den griechiſchen Schiffen nieder und ſchnellte Pfeil um Pfeil ab, daß ſein ſilberner Bogen grauenvoll erklang. Wen aber ſein unſichtbarer Pfeil traf, der ſtarb den plötzlichen Tod der Peſt. An¬ fangs nun erlegte er im Lager nur Maulthiere und Hunde, bald aber wandte er ſein Geſchoß auch gegen die Men¬ ſchen, daß einer um den andern dahinſank und bald die Todtenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten. Neun Tage lang wüthete die Peſt im griechiſchen Heere. Am zehnten Tage berief Achilles, dem die Beſchirmerin der Griechen, Juno, es ins Herz gelegt, eine Volksver¬ ſammlung, nahm das Wort, und rieth, einen der Opfer¬ prieſter, Seher oder Traumdeuter im Heere zu befragen, durch welche Opfer der Eifer Phöbus Apollo's beſänftigt und das Unheil abgewendet werden könne. Hierauf ſtand der weiſeſte Vogelſchauer im Heere, der Seher Kalchas auf, und erklärte, den Zorn des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/108
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/108>, abgerufen am 03.05.2024.